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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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das Zimmer Raskolnikows in dessen Abwesenheit und das sogar ohne Erlaubnis der Vermieterin. Kontinentaleuropäische Untersuchungsrichter können Porfiris Techniken (davon viele nach amerikanischem Recht verfassungswidrig) bis heute rechtmäßig einsetzen, wo immer dieseVerfahren der »Wahrheit« dienen, ohne dass eine vorherige richterliche Anordnung erforderlich wäre.
    Ein russischer Jurist aus der Zeit Dostojewskis fasst die beispiellosen Befugnisse des kontinentaleuropäischen Untersuchungsrichters wie folgt zusammen:
    Alle derartigen Funktionen zeigen, dass unsere Gesetzgebung dem Untersuchungsrichter nicht nur die Verantwortung zu fairen Entscheidungen anvertraut, sondern auch die Verantwortung, die der Funktion des Untersuchungsrichters in Strafsachen zur Aufdeckung der Beweise von Schuld und Unschuld immanent ist. [17]
    Doch können das Erfordernis der Unparteilichkeit (Artikel 265 der Strafprozessordnung 1864 bestimmt, dass der Untersuchungsrichter » vorurteilsfrei alle für den Angeklagten günstigen und ungünstigen Umstände untersuchen« muss) und das Nichtvorhandensein des politischen Ehrgeizes des amerikanischen Staatsanwalts, eine Verurteilung zu erlangen, genau die Gründe für Porfiris gegenüber Raskolnikow angeschlagenen ambivalenten Ton sein, der die in ihrem Verhältnis herrschende Spannung erzeugt.
    In der Tat seziert Schuld und Sühne die subtile Art, in der der Untersuchungsrichter in gewisser Weise eine pragmatische Freundschaft mit dem Protagonisten anknüpft. Im Gegensatz zur generellen Abwesenheit besonderer Motive in anderen Freundschaften ist die Anziehungskraft, die der Untersuchungsrichter auf den Verdächtigen ausübt, eine Kombination von echtem menschlichem Interesse und dem Wunsch, ein Geständnis hervorzulocken. Der Untersuchungsrichter zögert selten, seine großen Befugnisse im Ermittlungsverfahren einzusetzen, und nimmt gelegentlich eine praktisch übermächtige Stellung der Allwissenheit gegenüber seinem zunehmend verwirrten »Freund« ein. Doch führt Porfiris echtes Interesse an der kriminellen Persönlichkeit, das gelegentlich als Neid auf einen Menschen erscheint, der auferlegte gesellschaftliche Grenzen »überschreiten« kann, zu einer gleichberechtigten Beziehung, die künstlerisch fesselnd und für unsere Zwecke sehr aussagekräftig ist. In der zweiten Hälfte des Romans nimmt Porfiri mit Raskolnikow einen geistigen Wettstreit auf. Ihr verbaler Zweikampf spielt sich in drei Runden ab und erreicht seinen Höhepunkt mit Porfiris Doppelsieg: dem Schuldgeständnis und dem umfassenden Verstehen des Angeklagten. Wir werden sehen, dass Porfiris anschließende Bereitschaft, den ihm übergeordneten Juristen Teile seiner Erkenntnisse zu verbergen, nicht nur Raskolnikows Leben rettet, sondern auch (in einer etwas labilen und gekünstelten Weise) Dostojewskis christliches Weltbild.
    In dritten Teil, Kapitel 5, bringt Raskolnikow bewusst einen spielerischen Ton in die Beziehung, indem er seine Ankunft in Porfiris Wohnung als unbeschwertes Geplänkel mit Rasumichin inszeniert. Alle Begegnungen Raskolnikows mit Porfiri einschließlich des endgültigen Geständnisses erfolgen im rechtlichen (wenn auch nicht im psychologischen) Sinn auf freiwilliger Basis, und der Protagonist möchte von vornherein den Eindruck erwecken, dass ihn die strafrechtlichen Ermittlungen nicht im Geringsten bekümmern. Zwar geht der Untersuchungsrichter auf die fröhliche Stimmung ein, doch »wandte [er] die ganze Zeit kein Auge von [Raskolnikow]« ( III 5, S. 314). Sein »dickes, rundes, etwas stumpfnasiges Gesicht, [das] eine kränkliche, dunkelgelbe Farbe, dabei aber doch etwas Energisches und sogar Spöttisches [hatte]« (ebd.), mag Porfiri äußerlich wie die dickenssche Karikatur eines Juristen wirken lassen, doch verfügt er über den Scharfsinn und die Bedachtsamkeit, die für seinen Beruf wesentlich sind.
    Außerdem arbeitet er hart. Bis zum Zeitpunkt, zu dem Raskolnikow ihn aufsuchte, hatte er zu dessen merkwürdigem Auftritt im Polizeibüro wenige Tage vorher ( II 1, S. 120-134) bereits Sametow und andere Zeugen vernommen. Er hatte sich auch die Zeit genommen, den kürzlich erschienenen Artikel »Über das Verbrechen« des Verdächtigen zu lesen. Indem Porfiri bei dem Gespräch die Argumentation Raskolnikows nachvollzieht, lässt er geschickt seinen Verdacht anklingen, dass sein Gast die Theorie vom »außerordentlichen Menschen« durch die Ermordung der beiden Frauen in die Tat umgesetzt haben

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