Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
früheren Roman gepflegten psychologischen Spiele zu spielen. Die Juristen in Die Brüder Karamasow einschließlich des Verteidigers Fetjukowitsch, die sofort von Mitjas Schuld überzeugt sind, sind nur darauf aus, diejenigen Aspekte der Persönlichkeit des Verdächtigen zu betonen, die auf seine Täterschaft hinweisen, und dann eine Version von Karamasows Wirklichkeit zu erzählen, die ihrer vorgefassten Meinung entspricht. Wo Porfiri eine außerordentliche, eigenständige Figur sein musste, um Raskolnikows Gedankenwelt und seine Motive auszuloten, müssen die Juristen in Die Brüder Karamasow daher so konventionell sein, dass sie Mitjas ungewöhnliches Verhalten nicht begreifen und ihn eines Verbrechens für schuldig halten, das er nicht begangen hat.
Die Ironie in der Entwicklung, die die Figur des Untersuchungsrichters in Dostojewskis Romanen durchmacht, findet ihren Ausdruck in den Unterschieden zwischen Porfiri und seinem späteren Pendant Nikolaj Parfjonowitsch Neljudow. Nikolaj ist ein schmächtiger junger Mann von angenehmem Äußeren, der mit Porfiri eine gründliche juristische Ausbildung auf dem hohen Niveau gemeinsam hat, das von Untersuchungsrichtern verlangt wird (S. 724). Doch in der Praxis weist Nikolaj eher die Eigenschaften eines Nervtöters auf – er ist schwatzhaft, leicht ablenkbar (sogar von Leuten wie Gruschenka, die in seine eigenen Ermittlungen verwickelt sind) und in mediokrer Weise ehrgeizig. Sein nicht gerade außergewöhnliches Talent lässt sich auch daran ablesen, dass er seine gesetzliche Stellung als Herr der Voruntersuchung an Ippolit Kirillowitsch, den Staatsanwalt, abtritt. [22] Während Porfiri nie bei anderen Rat zur Führung seiner Ermittlungen sucht, hängt Nikolaj bei der Befragung des Verdächtigen und der Zeugen fast völlig vom juristischen Geschick seines Vorgesetzten ab: »so dass Nikolaj Parfjonowitsch jetzt […], intelligent wie er war, gleichsam im Fluge jede Weisung, jedes Mienenspiel seines älteren Kollegen auffing und auslegte, jedes halbe Wort, jeden Blick, jedes Zwinkern« (S. 744).
Trotz Nikolajs verfahrensrechtlich fragwürdiger Beflissenheit gegenüber dem Staatsanwalt (der den Untersuchungsrichter eigentlich um Redeerlaubnis bitten muss, wenn er bei einer Voruntersuchung präsent ist [23] ), legt er Wert auf die symbolischen Attribute seines Amtes. Als subdebni sledovatel’ übt er seine Autorität über die Polizisten Makarow und Schmerzow aus, beauftragt einen Inspektor der Polizei, eine förmliche Durchsuchung und Beschlagnahme durchzuführen (S. 727), [24] konfrontiert Mitja im Gasthaus von Mokroje, befragt Mitja und die Zeugen [25] und nimmt Mitja schließlich wegen Verdachts des Mordes an seinem Vater fest. Nikolaj legt Mitja also die drei Dostojewskischen »Peinigungen« auf, die im Neunten Buch mit dem Titel »Predvaritel’noe Sledstvie« (»Die Voruntersuchung«) beschrieben werden. [26] Doch wo Raskolnikow angesichts Porfiris zunehmender Einsichten in seine Persönlichkeit Qualen leidet, fühlt sich Mitja durch Nikolajs anhaltende Unfähigkeit, ihn zu verstehen, terrorisiert.
Mitja fühlt sich in der Verfahrenslage vor seiner Haft total erniedrigt, einer Lage, die nach US -amerikanischen Gesetzen theoretisch unmöglich, in Europa aber bis heute durchaus regelrecht ist. Er sitzt an einem Tisch und wird von mehreren Verhörpersonen beobachtet; jede seiner Gesten wird vom Untersuchungsrichter protokolliert, damit zum Teil der Verfahrensakten und später Grundlage eines längeren vor Gericht zulässigen Sachvortrags. Auch wenn Mitja vom Untersuchungsrichter mehrfach über sein Recht belehrt wird, Fragen nicht zu beantworten (S. 748, S. 765), hat er kein Recht, sich bei dem ersten Verhör von einem Anwalt beraten zu lassen, ob ein Schweigen zu bestimmten Fragen von Nachteil sein könnte. Und Nikolaj Neljudow ist trotz seiner generellen Unterlegenheit verglichen mit Porfiri Petrowitsch und seiner nicht gerechtfertigten Beflissenheit gegenüber dem Staatsanwalt keineswegs ein auf die leichte Schulter zu nehmender Untersuchungsrichter. Während der intensiven Befragung am Tisch bekommt Mitja mit, dass der Untersuchungsrichter ein »ganz raffinierter Ermittlungsrichter« ( iskusnejši sledovatel’ ) (S. 734) ist, der gut mit den psychologischen Kniffen seines Berufs umzugehen weiß. Zu den Nikolaj und Porfiri gemeinsamen Taktiken gehört der listige Wechsel zwischen Liebenswürdigkeit mit vielsagenden verbalen Tricks (Porfiris Kichern, Nikolajs
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