Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
stillschweigendem Einverständnis macht der Angeklagte A rmut und emotionale Labilität als Gründe für den Doppelmord geltend. Zwar schließen diese Lügen Raskolnikow endgültig vom vergebens angestrebten Status des Übermenschen aus, doch zeigen sie auch den Weg, auf dem die juristische Rekonstruktion von Ereignissen manchmal eher dazu dient, psychologische und künstlerische Ziele des Juristen zu erfüllen, als Gerechtigkeit im Einzelfall herbeizuführen. Porfiri, der Raskolnikow in den Verhören vor dem Prozess total in der Hand hatte, hat es persönlich nicht nötig zu erleben, dass der Angeklagte mit der Höchststrafe für ein Verbrechen bezahlt, das immerhin mindestens in einem Fall mit Mordvorsatz begangen wurde. Der Untersuchungsrichter entfernt daher seine gesicherte Erkenntnis über die absolut verstandesmäßige Veranlassung des Verbrechens aus den Akten (und enthält sie damit dem Staatsanwalt vor). Im Prozess wird Raskolnikow einfach als einer von vielen Hunger leidenden Studenten vorgestellt, der dafür eine drastisch geminderte Verurteilung ins Exil verdient (S. 677, Epilog).
In Vorahnung des in seinem letzten Werk und in Camus’ vom Recht handelnden Romanen voll entwickelten Themas weist Dostojewski darauf hin, dass das strafrechtliche Ermittlungsverfahren ein Potenzial für fantasievolle Kunstfertigkeit enthält. Porfiri, fasziniert vom kriminellen Denken und vielleicht sogar neidisch darauf, spielt innerhalb des Kontexts einer völlig respektablen beruflichen Haltung ein Spiel auf Leben und Tod. Die Grenzen zwischen dem Juristen und dem Verbrecher verwischen sich; die zwischen dem Juristen und dem Autor treten hervor. Aber da Porfiris Kunstgriff am Ende von Schuld und Sühne dem Leser gestattet, die Lektüre zufrieden abzuschließen, weil ein Protagonist, für den er trotz zweier brutaler Morde seltsamerweise erhebliche Sympathien empfand, aus dem Roman als freier, veränderter Mensch entlassen wird, sah Dostojewski womöglich keinen Grund, diese Grenzen der Identität zu verfolgen. Fünfzehn Jahre später hatte Dostojewski wesentlich mehr juristisches Wissen und künstlerische Erfahrung angehäuft, um sich erneut mit der entscheidenden Bedeutung einer imaginären strafrechtlichen Ermittlung auseinanderzusetzen.
»Vernünftigkeit« und falsch berechnete Schuld: Zeitliches Recht in Die Brüder Karamasow
Ein komplizierter literarischer Text erzeugt eine Reihe kritischer Reaktionen, die die Aufmerksamkeit jeder Generation von Lesern zum Nachteil des Texts als Ganzes auf bestimmte Passagen lenkt. So erklärt sich, dass trotz zahlreicher Quellen, die bezeugen, dass Dostojewski nach seinem Leben im Exil vom russischen Strafrecht praktisch besessen war, [19] den langen, detaillierten juristischen Ausführungen in Die Brüder Karamasow im Vergleich zu manchen weniger konkret gefassten Abschnitten des Romans nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Tatsächlich stießen die zaristischen Reformen in den Jahren, die zwischen dem Erscheinen dieses Romans und Schuld und Sühne lagen, bei Laien und in Juristenkreisen gleichermaßen auf lebhaftes Interesse. Doch bei Dostojewski, der 1876 dem berühmten Kroneberg-Prozess beigewohnt hatte, [20] schienen der Gerichtssaal und die Verfahren, die in der Strafverhandlung gipfelten, eine besondere Passion zu wecken. Fast ein Viertel des Texts von Die Brüder Karamasow handelt ausdrücklich von den beiden wichtigsten Komponenten kontinentaleuropäischer Strafverfahren: »Voruntersuchung« (Teil III – Neuntes Buch) und der Prozess selbst (Teil IV – Zwölftes Buch). [21] Es überrascht nicht, dass die Figur des Untersuchungsrichters im ersten Teil des Verfahrens eine erhebliche Rolle spielt; aber da der Angeklagte, Dmitri Karamasow (Mitja) ausdauernd seine Unschuld am Mord seines Vaters beteuert, rücken der Staatsanwalt und der Verteidiger bei einer Prozessszene, die wesentlich länger ist als die ausgehandelte Verurteilung Raskolnikows, letztlich in den Mittelpunkt des narrativen Interesses.
Mitja, dessen Verhaftung Folge einer ersten Serie von Verhören im Gasthaus von Mokroje ist, unterscheidet sich von Raskolnikow nicht nur, weil er das Verbrechen nicht gestehen will, sondern auch, weil er auf Befehl des Untersuchungsrichters rasch eingekerkert wird. Während der Untersuchungsrichter weitere Informationen zum Fall zusammenträgt und es dabei nicht mit einem Angeklagten in Freiheit zu tun hat, ist er nicht wirklich genötigt, die von Porfiri Petrowitsch im
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