Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
sanftes Flöten) und befremdlichen Vorschlägen. Ein Beispiel für letztgenannte Taktik ist Nikolajs – leicht übertriebenes, aber wohl angesichts seiner Befugnisse zur Durchsuchung und Festnahme gerechtfertigtes – Insistieren darauf, dass Mitja sich in Gegenwart mehrerer Bauern ausziehen soll (S. 769). Da Nikolajan den Kleidern des Verdächtigen Blutspuren entdeckt hat, ist der Befehl im Hinblick auf die Beweissicherung nicht unvernünftig, doch der Umstand, dass Mitja sich vor anderen entkleiden soll, erniedrigt ihn und lässt ihn »sich gewissermaßen selbst vor allen schuldig« fühlen. Vor allem seine Füße sind ihm peinlich (»Er hatte sein Leben lang seine Füße gehaßt […] und die großen Zehen an beiden Füßen für mißgebildet gehalten«, [27] S. 772), er vergleicht seine missliche Lage mit jemand, der mit der Rute ausgepeitscht wird und nennt die Juristen später seine »Folterknechte« (S. 795).
Dieser Vorfall zeigt gut, dass die Amtsbefugnisse des Untersuchungsrichters mittelalterlichen Ursprungs sind. Sogar einen Unschuldigen wie Mitja, der fähig ist, seinen Zorn zu artikulieren, können die subtilen Machenschaften des Untersuchungsrichters dazu bringen, sich schuldig zu fühlen. Nikolajs Anordnung dient der Erfüllung seiner historischen Rolle: den Verdächtigen in eine geistige Zwangslage bringen, in der er schließlich die Möglichkeit eines Geständnisses als Segen empfindet. Ähnlich wie Camus’ Meursault, dem der Untersuchungsrichter ein Kruzifix entgegenhält, kapituliert Mitja fast vor den Taktiken des kontinentaleuropäischen Strafverfahrens. Dostojewskis Kenntnisse über das zaristische Strafverfahren machen sich in den kleinsten Details von Nikolajs Techniken bemerkbar. Dessen Sorgfalt bei der Führung des Vernehmungsprotokolls, wenn er Nikolaj auffordert, seine Richtigkeit zu bestätigen und es zu unterzeichnen, bevor es zu den Akten genommen wird (S. 810), seine – merkwürdigerweise in Mitjas Gegenwart (S. 797) durchgeführte – Befragung der Zeugen (S. 798-811), die offensichtlich eher eine Taktik als eine rechtlich übliche Vorgehensweise darstellt, und die schließliche Verhaftung des Verdächtigen (»entsprechend den […] Paragraphen des ›Strafgesetzbuches‹«, S. 811), stellen zusammen das formalistische Rückgrat seines Amtes dar.
Die höchste Bedeutung des rechtlichen Verfahrens in diesem Meisterwerk findet ihren Ausdruck eher im Staatsanwalt (und, wie wir sehen werden, im »Großinquisitor«) als im Untersuchungsrichter selbst. Diese über Schuld und Sühne hinausgehende Entwicklung unterstreicht Dostojewskis Auffassung, dass der Jurist und Untersuchungsrichter ganz wie der Autor selbst von einer im Wesentlichen persönlichen Wahrnehmung der Realität motiviert wird. Der Mythos rechtlicher »Objektivität« wird auf diesen Seiten nicht nur zu den Zwecken einer gesellschaftlichen Satire untersucht, sondern allgemein wegen seines Zusammenhangs mit narrativer Selbstdarstellung.
In Mitjas Fall glauben weder Nikolaj noch Ippolit an dessen, wie sie es nennen, romanhaftes oder romantisches ( romaničeski ) Alibi (S. 801, 805). Auch hören sie Mitja eigentlich nicht zu, als er verzweifelt versucht, ihnen sein Wertesystem mitzuteilen, das eher der Ehre als der »Vernunft« verschrieben ist. Andererseits genießen sie es, »Bagatellen« zu betonen, die Mitja unerheblich erscheinen (S. 745, 763). Als sie mit dem absolut richtigen, freilich höchst unwahrscheinlichen Bericht des Verdächtigen darüber konfrontiert werden, warum er das ihm von Katerina Iwanowna lange vorher anvertraute Geld sorgfältig aufgehoben hatte und daher 1500 Rubel im Gasthaus von Mokroje durchbringen konnte (S. 783), nennt Nikolaj die Geschichte »ans Wunderbare« ( čudesno ) grenzend, und der Staatsanwalt reagiert mit offenem Ärger ( zlobi ).
Als Ippolit Kirillowitsch umgekehrt seine eigene »vernünftige« Theorie des Falls darlegt (Mitja tötete seinen Vater, auf den er wegen Gruschenka eifersüchtig war, stahl die 3000 Rubel vom Bett des Opfers und verprasste das Geld in Mokroje), sagt Mitja, »das kann doch unmöglich Ihr Ernst sein«, und nennt ihn »gemein« ( podlo , S. 790). Der Staatsanwalt kann nicht verstehen, wie man so unvernünftig sein kann, zunächst 1500 Rubel in ein Taschentuch einzunähen und dann alles in einer leidenschaftlichen Nacht auf den Kopf zu hauen. Katerinas Rubel »müssen« schon lange vorher verspielt worden sein, und das in Mokroje ausgegebene Geld »muss« vom
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