Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Mordopfer stammen.
Doch besteht die Dichotomie bei Dostojewski nicht zwischen Leidenschaft und Vernunft. Vielmehr stehen sich zwei Wertesysteme gegenüber, das eine spontan, das andere formelhaft, die beide aggressiv ihre Überlegenheit beweisen möchten. Nach Dostojewskis Auffassung spielt das juristische Ermittlungsverfahren subtil, aber hartnäckig die eigenen narrativen Standards aus und wird sich durchsetzen, auch wenn es Falsches konstruieren muss, damit derjeweilige Verdächtige in die erforderlichen Verhaltensmuster passt. Daher haben der Untersuchungsrichter und der Staatsanwalt sowie später im Prozess der Verteidiger [28] ein persönliches Interesse daran, Mitjas Motiv so zu definieren, dass sein Verbrechen in einer der narrativen Umformulierung zuträglichen Weise erklärt werden kann. Dieses Interesse spitzt sich in der Figur von Ippolit Kirillowitsch zu einer Passion zu (siehe S. 722, 744, 757), dessen überragend vernünftige Methoden und Argumente, ganz wie die des Strafprozesses selbst, eine tief sitzende Bindung an ein rein persönliches Weltbild verbergen, das von Dmitri Karamasow schlicht nicht geteilt wird.
Wie Professor W. Wolfgang Holdheim bemerkt, schlägt Ippolit Kirillowitsch »als typische Ressentiment-Figur« während des Strafverfahrens nicht nur ressentierend auf Mitja ein, dessen Charme auf die Frau des Staatsanwalts offenbar anziehend wirkt, sondern auch auf die ihm intellektuell überlegenen Fetjukowitsch und Iwan. [29] Allgemeiner gefasst mag der Staatsanwalt in der Tradition Porfiri Petrowitschs in Reaktion auf den aktiven Menschen handeln. Denn auch wenn Mitja in Wirklichkeit den Mord nicht begangen hat, markiert die gegenteilige Überzeugung des Juristen den Angeklagten in Verbindung mit dessen starkem, extrovertiertem Charakter als ein Objekt von Faszination und Bitterkeit.
Die gesamte Stoßkraft des Strafprozesses und die Aufgabe, für die sich »künstlerische Legalität« ausgezeichnet eignet, ist darauf gerichtet, die Existenz des spontanen, vitalen Individuums, das sich der Anklage stellen muss, verbal zu rekonstruieren und damit abzuwerten. Wie der moderne Romanautor setzt der Jurist seine Redebegabung ein, um ironische oder negative Porträts positiverHelden zu schaffen. Die persönlichen Probleme der für die Ermittlungen und die Anklage zuständigen Juristen, die in vielen Fällen in die Kategorie des Ressentiments einzustufen sind, werden in den scheinbar rationalen strafrechtlichen Verfahren institutionalisiert.
So macht Ippolits Ausbildung zum vernünftigen Mann, auch wenn sie kein Gegengewicht für die subjektiven Elemente sein kann, die in Wirklichkeit gerade diejenigen motivieren, die am objektivsten erscheinen, es ihm schwierig, den Ehrenkodex zu verstehen, kraft dessen Mitja sagen kann, er sei vielleicht »ein Schuft, aber kein Dieb« (S. 786). Wie ich zeigen werde, bringen die Skepsis der Juristen über den persönlichen Code des Ehrenmannes und der Nachdruck, mit dem sie darauf bestehen, für das Verständnis von Mitjas Handlungsweise vitale »Bagatallen« zu ignorieren, sie dazu, eine Schuldtheorie zu konstruieren, die auf Raub und Habsucht aufbaut, Motive, die nicht in Mitjas Natur zu finden sind.
Während Dostojewski die zahlreichen rechtlichen Aspekte von Schuld und Sühne weiterentwickelt, lässt er hier wiederum einen Staatsanwalt dem Mordverdächtigen ein Raubmotiv unterstellen. In Raskolnikows Fall wird die Raubtheorie schließlich offiziell akzeptiert. Da Porfiri in der Voruntersuchung sich zunächst mit Raskolnikow identifizieren und dann über ihn triumphieren konnte, hat er in der Angelegenheit weiter kein persönliches Interesse und lässt zu, dass im Prozess die Unwahrheit obsiegt. In Mitjas Fall schaffen die Juristen es nicht, die Natur des Verdächtigen mit ihren irrigen Wahrnehmungen zur Deckung zu bringen, und legen sich auf diese daher mit immer stärkerem Nachdruck fest. Beide Prozesse führen also zu falschen Schlüssen, auch wenn nur Mitjas Verfahren mit einem Irrtum zur tatsächlichen Schuld endet.
Dostojewski schildert im ganzen Roman brillant die künstlerische Legalität, und sein Auge aufs Detail bringt seine eigene Identifikation deutlich zum Ausdruck. Als der kreative Jurist schließlich so weit ist, im Prozess das offizielle Porträt des Angeklagten Mitja Karamasow zu zeichnen, hat seine Analyse bereits eine Reihe winziger und dennoch schicksalhafter Fehler erlitten, die von der Enge seiner idiosynkratischen Sicht verursacht
Weitere Kostenlose Bücher