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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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wurden. [30]
    Wenn Mitja daher in der Voruntersuchung darauf beharrt, dass er in Mokroje gerade die Hälfte der von Katja (und nicht aus dem Schlafzimmer des toten Vaters) stammenden 3000 Rubel ausgegeben hat, findet folgende Vernehmung statt, in der ein aufmerksamer Leser drei Irrtümer feststellen kann:
    »[Ich] entführte [Gruschenka] damals hierher nach Mokroje und brachte hier in zwei Tagen die Hälfte dieser verfluchten dreitausend durch, das heißt anderthalbtausend, die andere Hälfte aber habe ich behalten. Und von da an habe ich diese anderthalbtausend, die ich behielt, um den Hals getragen statt eines Amuletts, bis ich es gestern aufgerissen und das Geld durchgebracht habe. […]«
    »Erlauben Sie, wie kann das sein, Sie haben doch damals, vor einem Monat, dreitausend durchgebracht, nicht anderthalbtausend, und alle wissen das?« [Erster Irrtum]
    »Wer will das wissen? Wer hat sie gezählt? Habe ich jemand zählen lassen?«
    »Aber ich bitte Sie, Sie haben doch selbst vor allen behauptet, daß sie damals ganze dreitausend durchgebracht haben.« [Zweiter Irrtum]
    »Stimmt, das habe ich erzählt, das habe ich der ganzen Stadt erzählt. […] Und trotzdem sind es nicht drei, sondern anderthalbtausend gewesen, und die anderen anderthalbtausend habe ich als Amulett eingenäht; dort war es, meine Herren, daher hatte ich dieses gestrige Geld.«
    »Das grenzt ja ans Wunderbare … [ čudesno ]«, flötete Nikolaj Parfjonowitsch.
    »Gestatten Sie eine Frage«, meldete sich endlich der Staatsanwalt zu Wort, »haben Sie schon einmal irgend jemand von diesem Umstand unterrichtet […]?«
    »Ich habe es niemand erzählt. […] Keinem einzigen. Niemand, gar niemand.« [Dritter Irrtum]
    »Aber woher eine solche Verschwiegenheit? Was hat Sie bewogen, ein solches Geheimnis daraus zu machen? […]«
    Der Staatsanwalt verstummte. Er hatte sich in Rage geredet. Er machte keinen Hehl mehr aus seinem Ärger, fast seiner Wut [ zlobi ], und packte alles aus, was sich in ihm angesammelt hatte, sogar ohne sich auch um die Rhetorik zu kümmern, vielmehr zusammenhanglos und beinahe unklar.
    »Die Schmach waren nicht die anderthalbtausend, sondern daß ich diese anderthalbtausend von jenen dreitausend behalten habe«, sagte Mitja. […] »Durchgebracht, aber nicht gestohlen. […] Also, was wäre ich in diesem Falle? […] [Ein] Schuft, aber kein Dieb, kein Dieb, alles, was Sie wollen, aber kein Dieb!«
    »Zugegeben, es gäbe da einen gewissen Unterschied«, bemerkte der Staatsanwalt mit kühlem Lächeln. »Aber es ist dennoch eigentümlich, daß Sie diesem Unterschied eine derart verhängnisvolle Bedeutung beimessen.«
    Der erste Irrtum, der sich anhand der Seiten 193 und 253 f. feststellen lässt, zeigt, dass mindestens eine Person vermutet haben könnte, dass Mitja nur 1500 von Katjas Rubeln ausgegeben und die andere Hälfte in einem Amulett an seinem Hals aufbewahrt (und schließlich kurz vor seiner Verhaftung für Gruschenka ausgegeben) hatte. Diese Person, Aljoscha, erinnert sich schließlich bei seiner Aussage im Prozess an die einschlägigen Gespräche (S. 1079-1081), doch weil die Erinnerung so spät kommt, ist sein Zeugnis zu schwach, um den überzeugenden Redefluss des Staatsanwalts zu seiner Version des Falles aufzuhalten.
    Der zweite Irrtum ist noch eindeutiger. Selbst Mitja vergisst, dass er Plastunow, den Wirt des Gasthauses in Mokroje, daran erinnert hat, »mehr als einen Tausender durch den Schornstein gejagt« zu haben, und dass er »auch jetzt […] so viel mit[bringt]« (S. 666 f.). Wären diese Bemerkungen vom Untersuchungsrichter oder vom Staatsanwalt aufgegriffen worden, hätten sie Mitja entlastet; denn sie stellen klar, dass Mitja bei seinem zweiten Gelage in Mokroje nicht 2000 neu gefundene Rubel ausgeben konnte. Aber Plastunow, einer von vielen ungenauen Zeugen, hat in der Voruntersuchung zu diesem Thema gelogen und mit hoher Gewissheit erklärt, Mitja habe ihm »angekündigt«, er habe auch diesmal 3000 Rubel bei sich (S. 799).
    Kleine Irrtümer wie diese, die von Mitja ironischerweise im dritten Irrtum verstärkt werden, ermöglichen den Juristen, ein umfassendes und verzerrtes Narrativ von Mitjas Motiven und Handlungen zu schreiben. Daher kann Ippolit Kirillowitsch am Ende des Prozesses im längsten Monolog seit Iwans Erzählung in »Der Großinquisitor« überzeugend Folgendes sagen:
    Aber nein, er tastet seinen Talisman nicht an, und unter welchem Vorwand? Der ursprüngliche Vorwand, wir nannten ihn

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