Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
schon, bestand darin, daß er, wenn sie ihm sagte: »Ich bin dein! Bring mich fort, wohin du willst«,genügend Geld haben müßte, um sie fortzubringen. Aber dieser erste Vorwand verblaßte, nach den eigenen Worten des Angeklagten, vor dem zweiten. Solange ich dieses Geld an meiner Brust trage – »bin ich ein Schuft, aber kein Dieb«, denn ich kann jederzeit vor meine von mir gekränkte Braut treten, diese Hälfte der von mir zu Unrecht angeeigneten Summe vor sie auf den Tisch legen und jederzeit sagen: »Siehst du, ich habe die Hälfte der Summe durchgebracht und damit bewiesen, daß ich ein schwacher, charakterloser Mensch und, wenn du so willst, ein Schuft bin« (ich bediene mich der Ausdrucksweise des Angeklagten), »aber obwohl ich ein Schuft bin, bin ich doch kein Dieb, denn wenn ich ein Dieb wäre, hätte ich dir diese übriggebliebene Hälfte nicht zurückgebracht, sondern sie mir genauso angeeignet wie die erste.« Eine erstaunliche Erklärung eines Faktums! Dieser wirklich besessene, aber schwache Mann, der der Versuchung erliegt, dreitausend Rubel unter so schmählichen Umständen entgegenzunehmen – dieser selbe Mann sollte plötzlich eine solche stoische Festigkeit entwickeln und mehr als tausend Rubel auf der Brust tragen, ohne sich zu gestatten, sie auch nur anzurühren! Läßt sich das auch nur andeutungsweise mit dem von uns analysierten Charakter in Beziehung setzen? Nein, und ich erlaube mir, Ihnen zu schildern, wie in diesem Falle der wirkliche Dmitrij Karamasow handeln würde, auch dann, wenn er sich tatsächlich dazu entschlossen hätte, sein Geld in ein Amulett einzunähen. Bei der ersten Anfechtung – und sei es der Wunsch, die neue Geliebte, mit der er bereits die erste Hälfte dieser Summe durchgebracht hatte, irgendwie zu unterhalten – hätte er seinen Brustbeutel aufgetrennt und – fürs erste wenigstens – hundert Rubel herausgenommen, denn warum sollte er unbedingt die Hälfte, das heißt, anderthalbtausend, zurückgeben, eintausendvierhundert wären doch schon genug – es läuft auf dasselbe hinaus: »Ich bin ein Schuft, aber kein Dieb! Ich bringe ja eintausendvierhundert zurück, ein Dieb aber hätte alles genommen und keine Kopeke zurückgebracht.« Dann, nach einiger Zeit, hätte er abermals das Amulett aufgetrennt und abermals einen Hunderter herausgenommen, bereits den zweiten, dann den dritten, dann den vierten und so weiter, und am Ende des Monats wäre schließlich der vorletzte Hunderter an der Reihe gewesen; ich brauche ja sozusagen nur einen Hunderter zurückzugeben, den vorletzten: Es läuft auf dasselbe hinaus: »Ein Schuft, aber kein Dieb. Neunundzwanzig Hunderter sind verpraßt, aber immerhin wird ein einziger zurückgegeben, ein Dieb täte das nicht.« Aber zu guter Letzt, nachdem dieser vorletzte Hunderter ausgegeben war, hätte er den letzten Schein angesehen und im stillen gedacht: »Was hat es für einen Sinn, diesen einen Hunderter zurückzugeben – ich will auch noch diesen durch den Kamin jagen!« So hätte der wirkliche Dmitrij Karamasow, den wir kennen, gehandelt. Die Legende von dem Amulett aber widerspricht so sehr der Realität, wie man essich krasser kaum vorstellen kann. Man könnte alles gelten lassen, nur dies nicht! (S. 1116-1118 – Herv. R.W.)
Wie Porfiri Petrowitschs Darstellung des Verbrechens und der Motive Raskolnikows am Ende ihres dritten Dialogs verdient auch diese eine eingehende Untersuchung. Als krönender Abschluss der Voruntersuchung zeigt sich in dieser für die Geschworenen gehaltenen Rede das kreative Weltbild und der geistig-seelische Kern des Staatsanwalts. Seine subjektive, von Ressentiment getrübte Wahrnehmung Mitjas lässt den Staatsanwalt seine kuriose Realitätssicht als erzählerisches Kunstwerk institutionalisieren. Wir wissen, dass seine Version von Mitja, anders als die Porfiris von Raskolnikow, total neben der Sache liegt. Aber seine juristische Machtposition und seine Fähigkeit, seine eigenen ressentierenden Irrtümer scharfsinnig und sprachlich flüssig zu konstruieren, überzeugt die weniger instruierten Geschworenen und Zuhörer von Mitjas Schuld und seinen Motiven.
Wie wir sehen werden, wird nach Dostojewski in vielen populären Romanen mit juristischen Bezügen ein Staatsanwalt mit einem Angeklagten konfrontiert, der selbst einige Vorstellungen von Gerechtigkeit hat (zum Beispiel Kapitän Vere und Billy Budd); und hebt dann seine eigene verworrene Reaktion auf eine Stufe scheinbar objektiver Legalität.
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