Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
Die Verkörperung von Ehre, Moral und Gerechtigkeit muss mit legalen Mitteln vernichtet werden.
Aber in dem Maß, in dem der kreative Akt Ippolit Kirillowitschs in seiner Verzerrung und seiner Wirkung sogar über den von Porfiri Petrowitsch hinausgeht, werden seine Implikationen für Dostojewskis Vorhaben in unermesslichem Umfang verstärkt. Ein erster Hinweis, um dies besser zu verstehen, sind die Initialen des Staatsanwalts, dieselben wie die von Iwan Karamasow, dem verdrehtesten intellektuellen Schwätzer des Romans. Iwans zunehmende Abhängigkeit von seinem idiotischen Halbbruder Smerdjakow (mit dem er auch drei kräftezehrende »Verhöre« über sich ergehen lassen muss; Elftes Buch, VI-VIII ) macht ihn für alle, die er eigentlich lieben sollte, erfolglos und sogar grausam. Lise Chochlakowa, Katerina Iwanowna (die mit ihm einen Teil seines Namens und sein Ressentiment gemeinsam hat), der Diener Grigorij, sogar Aljoscha und natürlich Mitja werden zum Ziel seiner sinnlosen Wut, während die wahre Ursache seiner gefühlten Kränkung paradoxerweise ungerächt bleibt. Allein Smerdjakow kann die konstante, lästigePräsenz des Vaters letzlich überwinden. Aber Iwan lässt es trotz all seiner schönen Worte über eine gerechtere Welt zu, dass sein älterer Bruder wegen des Vatermords verurteilt wird.
Wie Ippolit Kirillowitsch schafft Iwan kreative Brillanz nur durch narrative Formeln. Seine Gespräche sind in Wahrheit gut gegliederte Reden. Wie der Kellerlochmensch, sein geistiger Vorläufer, lehnt Iwan den höchsten Dostojewskischen Zustand, spontane, unstrukturierte Liebe, zutiefst ab. Sein Ressentiment macht ihn unempfänglich für alle menschlichen Erfahrungen mit Ausnahme narrativer Formeln. Und seine Theorien verbergen wie die des Kellerlochmenschen hinter bloßen Worten zu Freiheit und effektivem Handeln seine Abhängigkeit von einer kranken Seele.
Auch Ippolit Kirillowitsch gelingt die vollkommenste Selbstdarstellung durch die Schaffung einer Reihe langatmiger Narrative, weitgehend genährt aus den Tiefen seiner Verbitterung. Wenn er es wie die späteren legalistischen Figuren, zum Beispiel Kapitän Vere und Clamence, schafft, eine heftige Neigung zur Negativität mit kühlen, rationalen Formen zu verschleiern, geht der Sinn des Romans mit seinen Verästelungen über bloße Gesellschaftskritik hinaus. Recht als Thema dient Dostojewski zum Vortrag seiner These, dass alle, die Ressentiment zur Verbalisierung von Leben einsetzen, es nur schaffen, ein künstlerisch überzeugendes, aber im Wesentlichen ungerechtes Porträt der Wirklichkeit zu produzieren. Kein Geschworener begreift die Motive und letztendlich die Irrtümer der Rechtsartisten, die die ursprünglichen Umstände des Vatermords neu organisieren. Die absichtlich gefälschten oder unbewusst verzerrten Aussagen von Zeugen wie Grigorij und Katerina Iwanowna, beide in geringerem Maße von derselben Verbitterung wie Ippolit und Iwan gegenüber dem Angeklagten, [31] stützen die uneinnehmbare Mauer der staatsanwaltlichen Sprache ab.
So wird der unschuldige Mitja überführt.
4 – Dostojewskis gebrochene Struktur
Freilich fand er am Ende einen versöhnlichen Ton und brachte »theoretisch« seine volle Übereinstimmung mit der Forderung nach gleichen Rechten für Juden zum Ausdruck, doch bestand er darauf, dass nicht der Russe den Juden hasste, sondern dass es sich umgekehrt verhielt. Als er in die Ecke gedrängt und zu einer öffentlichen Erklärung gezwungen wurde, gab sich Dostojewski alle Mühe, seine eigenen Vorurteile gegen Personen und Völker zu verbergen, doch es störte ihn, dies tun zu müssen. Im Fall seiner tief sitzenden antijüdischen Gefühle, die sich auf den dunklen, religiösen Hintergrund seiner Kindheit zurückführen lassen, brach dieses Ressentiment in einem Satz am Anfang von Die Brüder Karamasow durch, in dem er alles Gift konzentrierte, dessen sein Wesen fähig war, und in zwei Sätzen eines Dialogs zwischen Aljoscha und Lisa, in dem es scheint, als hielte er das mittelalterliche »Blutgerücht« gegen die Juden für glaubhaft.
David Magarshack, Dostoevski
Der Großinquisitor
Die juristischen Teile von Die Brüder Karamasow verweisen auf die negativen gesellschaftlichen Konsequenzen narrativer Strukturen, denen es an einer substanziellen Gerechtigkeitsvision fehlt. Leben werden zerstört, und die Falschheit triumphiert, wenn Legalismen die Wirklichkeit verbiegen. Aber wie die Geschworenen im Prozess kann der Leser allzu oft
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