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Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)

Titel: Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Weisberg
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Fehler, wie der von vielen »Existentialisten« der Nachkriegszeit ist es, nur die Hälfte von Nietzsches System, seinen scheinbaren Nihilismus, zu akzeptieren und diese Hälfte dann sogar noch zu einer absurden Sicht auf das Universum zu erweitern. Clamence kann kein positives, ethisches Wertesystem schaffen, dass den verrotteten gegenwärtigen Code ersetzen muss, und hat damit aus seinen wortgewandten Ermittlungen gegen sich selbst nichts gelernt. [24]
    Ironische Absurdität als moderne Version christlicher Passivität wird in dieser Geschichte einer kritischen Selbstbewertung unterzogen. Wie der Papst, [25] dessen Rolle Clamence während des Kriegs als Stellvertreter übernimmt, und wie alle großen institutionellen Figuren Europas, fehlt es Clamence an der Courage zu sagen: »Bis hierher und nicht weiter.« Daher muss Clamences Zuhörer, um aus dessen langem, tückischen Diskurs Nutzen zu ziehen, den Protagonisten als negatives Modell übernehmen, nicht als schlaue, raffinierte Wortschleuder, dessen nihilistische Sicht auf das Universum von allen intelligenten Lesern übernommen werden sollte. Wir müssen Clamences Einladung am Ende seiner ausgeklügelten Geschichte nicht annehmen, um uns davonzuschleichen, wenn wir das nächste Mal auf einer Pariser Brücke eine Person antreffen, die unsere Hilfe braucht.
    Camus’ mutiges letztes Werk stellt eine explizit historische Kulisse zur Verfügung, in der der literarisch-juristische Ermittlungsansatz total scheitert. Der Anwalt wurde nicht nur zum Verbrecher, sondern hat in die Kriminologie ein vollendetes Gedankengebäude eingebracht. Seine ursprüngliche Unterlassung brachte ihm das ironische Lachen ein, das seinen Fall besiegelte, doch unterlassen zu haben, aus der Erfahrung zu lernen, ist doppelt verwerflich. Es kann sein, dass auch Religion, Recht, Wissenschaft und Literatur in Europa, einst sichere Häfen für die schlauen Clamences, in derselben Weise ihre eigenen Werte wegrationalisiert haben.

Teil 4 – Kreative Verwendung von Gesetzen für subjektive Zwecke: Der Fall von Billy Budd
    In dieser Lügenwelt muss die Wahrheit wie ein aufgeschrecktes weißes Reh in die Wälder fliehen; nur flüchtig wird es sich blicken lassen, wie die Wahrheit in der großartigen Kunst Shakespeares und anderer Meister – und dann auch nur im Verborgenen und bruchstückhaft.
    Melville, Moby Dick

Plots und Abschweifungen
    Die perfekte Abstimmung von Form und Inhalt in Billy Budd beweist, dass die Handlung eines Romans oder einer Kurzgeschichte anhand einer aristotelischen Wiedergabe des bloßen Handlungsstrangs nicht adäquat beschrieben werden kann. Vielmehr gilt mit den Worten Wiktor Schklowskis, dass ein Romanplot »die Herstellung des Themas der Geschichte ist, wie sie sich durch zur Unterbrechung eingefügte Abschweifungen ergibt«. [11] Wie schon mehrfach angedeutet, passt die Verwendung juristischer Strukturen perfekt zu den abschweifenden Tendenzen der Romanform; der Leser kann sich nicht in einem zügigen Erzählfluss installieren, sondern wird zum Innehalten, zum Wiederanknüpfen, zum Zurückverfolgen und zur Konzentration auf Details gezwungen. Romanhafte Bedeutung, so lernen wir aus diesen Texten, entzieht sich aristotelischen Erwartungen. Und sicher würde niemand, der sich auf die ausgeklügelte Komplexität des letzten Werks Melvilles eingelassen hat, ohne Weiteres einen schematischen Ansatz zur Beschreibung des »Plots« akzeptieren. Derartige Bemühungen von Filmemachern, Librettisten und manchen Literaturkritikern [12] reduzieren nur die narrative Subtilität, die der Geschichte eigen ist. Dagegen ist es möglich und für unsere Zwecke hier auch erforderlich, eine Art Nachguss der Geschichte zu erstellen und dabei ihren Abschweifungen treu zu bleiben.
    Die Novelle mit dem Untertitel Innenansichten einer Geschichte ist nicht lang – ungefähr neunzig Seiten. Sie beginnt mit der Beschreibung eines bestimmten Typus, des »Schönen Matrosen«, für den der Titelheld ein gutes, wenn auch nicht ganz makelloses Beispiel ist. Was diesem Typus wesentlich ist, wird in folgender Passage beschrieben:
    Er verkörperte Kraft und Schönheit. Man erzählte sich Geschichten über seine Heldentaten. An Land war er der Champion, auf See der Wortführer; bei jeder sich bietenden Gelegenheit immer vorneweg. Da saß er, im Sturm, beim Reffen der Marssegel, rittlings in Luv auf der Rahnock, den Fuß wie im Steigbügel unter den Paarden, mit beiden Händen an den Zeisingen wie an

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