Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
und fast verlockend zu machen.
Ist also Clamences intellektueller Nihilismus vielleicht ein spielerischer und doch realistischer Einstieg in Camus’ Welt, in der absolute Werte wie »Wahrheit« formell abgelehnt werden? Camus formuliert das Problem des intellektuellen und juristischen Schwindels des 19. Jahrhunderts im Kontext der Abgeschmacktheit und des Werteverlusts des 20. Jahrhunderts. Hier bekommen Clamences Lügen einen Charme, der überwältigend wäre (insbesondere für den implizit mit dem Autor identischen Zuhörer), würde Camus nicht bewusst ein historisches Ereignis bemühen, das womöglich den größten Beitrag zu diesem Werteverlust leistete. Erinnern wir uns an unsere Hypothese zur strukturellen Wirkung einer literarischen Behandlung juristischer Ermittlungen. Wahrheit , eingeführt durch die ursprüngliche Schilderung der Ereignisse, geht ihrer späteren Reflexion unter dem juristischen Mikroskop voraus. Clamences Ermittlung gegen sich selbst, voll von Täuschungen, kann sich noch weniger als die früheren von uns untersuchten juristischen Ermittlungen mit einer vorhergehenden Wahrnehmung der Wahrheit konfrontieren.
Bezeichnenderweise findet Clamences »Bekenntnis« im Kontext und als Nachspiel des europäischen Faschismus statt; Camus beruft sich auf die weiter gespannte Realität zeitgenössischer Geschichte. Die Art von Falschheit, die für die persönliche Zerstörungswut intellektueller Protagonisten des 19. Jahrhunderts und auch für die institutionelle Ungerechtigkeit ihrer Juristen prägend war, erhält eine neue Dimension, wenn sie mit einem kosmischen, historischen Dilemma wie dem Auftritt der Nazis in Europa konfrontiert wird. Und wenn sein Zuhörer bemerkt, dass der weitschweifige, noch immer wie ein Anwalt auftretende Erzähler »verdächtig rasch über diese immerhin bedeutungsvollen Details hinweggeht«, gibt Clamence tatsächlich etwas zu:
Die Widerstandsbewegung […] reizte mich […]. Ich begab mich in die unbesetzte Zone mit der Absicht, mich über die Widerstandsbewegung zu informieren. Aber einmal dort und informiert, zögerte ich. Das Unternehmen schien mir ein bisschen verrückt und, um ganz offen zu sein, zu romantisch. Ich glaube vor allem, dass die unterirdische Tätigkeit weder meinem Temperament noch meiner Vorliebe für luftige Höhen entsprach. […] Ich bewunderte die Menschen, die sich diesem Heldentumder Tiefe verschrieben, aber ich vermochte nicht, es ihnen gleichzutun. (S. 101 f.)
Wie viele Franzosen, wie viele kultivierte Europäer sahen sich in derselben Situation wie Clamence! Joseph Haennig, der erste in dieser Untersuchung eingeführte literarische Jurist (siehe Einführung) war schließlich nichts weiter als ein französischer, während des Kriegs praktizierender Anwalt, der es nicht ganz über sich brachte, grotesken Realitäten direkt ins Auge zu sehen. Sein Aufsatz von 1943 über die Rassengesetze ermöglichte ihm vermutlich, ein Mindestmaß an Selbstachtung zu bewahren. Auch er vermied das »Heldentum der Tiefe«. Detailgenauigkeit, die Konkretisierung von Geschichte und Form, macht unmissverständlich klar, was Camus meint. Clamences beruflicher und persönlicher »Fall« klagt ein bestimmtes Wertesystem an – das der modernen europäischen Kultur.
Der wortreiche Protagonist sagt über die Nazis, was man auch von ihm sagen könnte: »Wer keinen Charakter hat, muss sich wohl oder übel eine Methode zulegen« (S. 12). Seine Methode ist kodifizierte Falschheit. Nachdem er durch passive Akzeptanz zu bestialischem Unrecht beigetragen hat, versucht Clamence sein persönliches Scheitern in eine weitschweifige Philosophie umzumünzen. Seine ressentierende Passivität, millionenfach kopiert, hatte im Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts verheerende Konsequenzen. Selbst eingestandene oder ironisch gemeinte Verlogenheit ist vielleicht besser als unbewusste oder aufgesetzte Falschheit, aber Ironie und Komplexität ohne tief verwurzelte Werte führen den passiven Beobachter dazu, in unentschuldbarer Weise jede externe Realität zu akzeptieren, die ihm zufällig aufgezwungen wird.
Clamences »Fall« ist der einer ganzen Generation von Europäern. Literarische, juristische und christliche Institutionen waren bestenfalls untauglich, die Bestie in ihrer Mitte zu bezwingen. Und als das in der Geschichte beispiellose systematische Massaker an Unschuldigen vorbei war, nahm die Kultur genau wie Clamence eine Haltung lächerlicher Selbstbestätigung ein. Sein
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