Rechtsgeschichten: Über Gerechtigkeit in der Literatur (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) (German Edition)
wir sehen werden, noch immer ein Strafverfahren ist, er selbst ist und dass ihr einziges Medium ein verquälter, in hohem Maße formelhafter und im Wesentlichen literarischer Diskurs ist. Wir sind genötigt, seiner ironischen Kommunikation als Richter und Verdächtiger zugleich zu folgen, da seine Geschichte auch unsere ist.
Clamence erzählt seinem Zuhörer, während er mit ihm an denKais von Amsterdam spazieren geht, von dem geheimnisvollen Lachen, das vor Jahren auf dem Pont des Arts das selbstzufriedene Gefühl von Macht des Rechtsanwalts untergraben hatte (S. 34). Teilweise erinnerte das Lachen Clamence bestimmt an sein früheres Versagen, von einer anderen Pariser Brücke in die Seine zu springen, um einen Selbstmordversuch zu verhindern (S. 58 f.). Aber in seiner Anonymität steht das Lachen stellvertretend für die Anklage von Clamences gesamter Existenz. Entkörperlicht war es der Widerhall seiner eigenen Distanziertheit; die kichernden Obertöne sind die Karikatur des Tenors eines falsch geführten Lebens, in dem zur Schau getragene Freude die innere Groteske wortreicher Gefühllosigkeit maskiert. Wie Iwan Karamasows Teufel ist das Lachen des »ganzen Weltalls« (S. 68) Ausdruck und Verkörperung seines aus den Fugen geratenen inneren Zustands. [23]
Das Lachen steht also für Clamences Selbstanklage wegen der übermäßigen Bewunderung, mit der er früher auf seine beruflichen und persönlichen Erfolge blickte. Ihre ironische Beweiskraft wird von einem Vorfall mit einem Motorrad unterstützt, ein Ereignis, das Clamence speziell unter dem Zeichen des »Grolls« (S. 46) einordnet. Die klassischen Symptome dieser eigentümlichen literarischen Malaise kommen bei ihm zum Ausbruch, als er in einem Pariser Verkehrsstau in seinem Wagen hinter einem liegengebliebenen Motorrad sitzt und beschließt, eine Szene zu machen, um sich durchzusetzen; stattdessen macht er sich lächerlich, fängt von einem Passanten einen fast paradigmatischen Schlag aufs Ohr ein und kehrt unter dem aufgebrachten Hupen aus der Fahrzeugschlange »fügsam und […] benommen« zu seinem Wagen zurück (S. 45 f.). Wie der Kellerlochmensch kann Clamence derartige »Demütigungen« nicht vergessen, so belanglos sie bei normaler Betrachtungsweise auch sein mögen. Noch bei der Erzählung des Ereignisses in Amsterdam lässt er den »kleinen Film wohl hundertmal vor seinem geistigen Auge abrollen« (S. 46). Der Motorradvorfall erinnert stark an die Abendessensszene mit Swerkow in Aufzeichnungen aus dem Kellerloch ; er verschärft Clamences zunehmende Verunsicherung und treibt ihn weiter in den letzten Ausweg für seine romantische Selbstbewunderung, in das Reich ausgeklügelter verbaler Konstruktionen, die sich im Exil noch verstärken.
Auf den ersten Blick ist der Clamence, dem wir in Amsterdam begegnen, ein witziger Exzentriker, der sich eines verfrühten, belesenen Lebensabends erfreut. Als Mischung aus neuzeitlichem Ancient Mariner und modernem Nihilisten, dessen gutmütige Ironie den Ernst seiner Betrachtungen menschlichen Verhaltens mildert, zieht er einsame Touristen ins Gespräch. In Wirklichkeit ist Clamences Parodie des übermäßig selbstbewussten Modells der ressentierenden Protagonisten des 19. Jahrhunderts ein gefährlicher und gleichzeitig entwaffnender Schwindel. Noch immer übt er seinen früheren Beruf aus, indem er den Gästen der Mexico-City-Bar Pseudo-Rechtsberatung anbietet, und erhebt dabei die dostojewskische Kombination gesellschaftlicher Negativität und verbaler Komplexität zu einem selbstgefälligen Ethos, in dem Falschheit noch deutlicher als im System Frédéric Moreaus zu einer primären Voraussetzung wird:
Bringen die Lügen einen nicht letzten Endes auf die Spur der Wahrheit? Und zielen meine Geschichten, die wahren so gut wie die unwahren, nicht alle auf den gleichen Effekt ab, haben sie nicht alle den gleichen Sinn? Was hat es da zu besagen, ob ich sie erlebt oder erfunden habe, wenn sie doch in beiden Fällen für das bezeichnend sind, was ich war und was ich bin? Man durchschaut den Lügner manchmal besser als einen, der die Wahrheit spricht. (S. 100)
Wie die intellektuellen Philosophen (der Kellerlochmensch und Iwan Karamasow) und die juristischen Philosophen (Porfiri Petrowitsch und Ippolit Kirillowitsch) weist Clamence hier alle Standpunkte ab, die seinem widersprechen. Und wie der Künstler-Priester (Schahabarim) und der mittelmäßige Jurist (Frédéric) ist er inder Lage, seine Argumente auszuschmücken
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