RECKLESS HEARTS
fragte er unsicher, aber voller pulsierender Neugier, die er nicht zurückdrängen konnte.
Auf seinem Gesicht lag ein Hauch Melancholie, die seine Augen tief und geheimnisvoll wirken ließ. Selin fragte sich, ob er mit diesen Augen den traurigen Teil ihrer Seele sehen konnte.
Und wenn es so wäre? Ein Zittern durchfuhr sie.
»Kann ich wirklich hier bleiben?«, fragte sie, um sich zu vergewissern, dass er seine Einladung inzwischen nicht schon bereute.
Alex schien überrascht. »Ja. Natürlich. Kannst du.«
»Macht es deiner Mutter denn nichts aus?«
Er hob unbeirrt die Brauen. »Wie es scheint, nicht ...«
»Dann bleib ich ... gerne.« Sie sah ihn abwartend an.
»Okay«, gab er zurück. Okay. Ein Wort. Mehr nicht. Dann räusperte er sich.
Selin rutschte auf dem Holzstuhl etwas unruhig hin und her und ließ den Blick durch die Küche wandern. Die weißgrauen Einbauschränke hatten ihre besten Zeiten schon hinter sich und waren an manchen Ecken deutlich angeschlagen. Der Glanz der Arbeitsflächen war durch viele Kratzspuren dahin, aber sonst war alles aufgeräumt und sauber, ein angenehm süßlicher-herzhafter Duft nach Zimt hing in der Luft. Toaster, Mikrowelle und Kaffeemaschine standen ordentlich nebeneinander und waren blitzblank poliert als wären es Ausstellungsstücke. Der leise surrende Kühlschrank war ein massives altes Modell, dem sein hoher Energieverbrauch wohl aus sentimentalen Gründen verziehen wurde, liebevoll beklebt mit verblichenen Blümchen-Aufklebern, die in Selins Kopf eine seltsam nebulöse Erinnerung an längst vergangene Zeiten aufblitzen ließen, aber sie wusste auf Anhieb keine wirkliche Zuordnung.
Eine einsame kleine Weihnachtsmannpuppe aus Stoff hing am Fenstergriff.
Auf dem Tisch stand eine gläserne Obstschale mit drei Orangen und einer Banane. Selins leicht beklommen umherirrender Blick blieb an dem Obst haften. Eine spontane Idee kam ihr zur Hilfe.
»Ich könnte für uns alle kochen«, ließ sie plötzlich verlauten.
Als kleines Kind hatte sie von ihrer Mutter gelernt, dass ein gemeinsames Mahl Herzen näher bringen könne. Für jemanden zu kochen und anschließend mit ihm - oder ihr - zu essen, hatte in ihrer Familie als Ehrerweisung, Dank und Ausdruck von großer Sympathie und Freude gegolten - weswegen sie für Sabri zwar gekocht, aber nie mit ihm gegessen hatte.
»Brauchst du nicht, du bist unser Gast«, entgegnete Alex steif.
Sein Gesicht hatte etwas Faszinierendes.
Die wohlgeformten Augenbrauen fielen zum Nasenbein hin etwas steil ab und endeten an der äußeren höchsten Stelle mit einem runden, kurzen Knick. Sie waren deutlich dunkler als die hellbraunen Haare mit dem leichten Rotstich und verstärkten seine markanten Züge.
Selin musterte ihn wie gebannt, ohne sich auch nur einen Moment dessen bewusst zu werden, so, als wäre sie hypnotisiert. Sie schluckte still in sich hinein, denn dieser Mann war real und keine Filmfigur, die unerreichbar war. Etwas irritiert von ihren Blicken schien er darauf zu warten, dass sie etwas sagte. Doch Selin betrachtete ihn weiter voller heimlicher Faszination. Wow! Um seine Augen zu beschreiben, brauchte man Superlative. Und sein Mund ... eine perfekt aufgeworfene Oberlippe, in der Mitte herzförmig, voller als die untere ... weich, dunkel.
Mit aller Mühe zwang sie sich, zum Thema zurückzukehren. Kochen, ja genau, sie hatte angeboten zu kochen ... »Nein, nein, ähm ... ich mein, als Dankeschön, weil ich hier bleiben darf, obwohl ihr mich doch gar nicht kennt.« Ein zaghaftes, süßes Lächeln ... dann fuhr sie hastig fort: »Es macht mir wirklich nichts aus, und ich würde mich dann besser fühlen, auch gegenüber deiner Mutter, wirklich.« Mit einem tiefen Atemzug beendete sie ihren Satz. Ihre Pulsfrequenz hatte sich spürbar erhöht.
Wieder schwiegen sie endlose Sekunden und fühlten etwas Aufwühlendes, das verwirrend und aufregend zugleich war.
Alex fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und überlegte. »Meinetwegen. Wenn du unbedingt möchtest«, sagte er schließlich.
Sie nickte bekräftigend, und er wagte sich weiter vor, wagte es tatsächlich, die nächste Frage zu stellen: »Mit wem ... hast du vorhin telefoniert?«
Die Antwort kam prompt, ganz ohne ein Zögern. »Mit meinem, ähm ... meinem zukünftigen Ex-Mann.« Ein unsicheres Blinzeln ihrer dunklen Augen folgte ...
Wie überspielt man große Verwunderung und freudige Erregtheit? Alex versuchte es mit einem Pokerface. »Hast du ihn verlassen, ich
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