RECKLESS HEARTS
mein ... letzte Nacht?«
Soll er es doch ruhig wissen , dachte sie, jetzt, wo sie immerhin in seiner Küche saß. »Ja, hab ich.«
Von ihrer eigenen Offenheit überrumpelt ließ sie ihn sicherheitshalber nicht mehr aus dem Blick, bis er verlegen auf seine Hände herabsah.
Nach weiteren einnehmenden Momenten des gemeinsamen Schweigens schien die Kluft zwischen ihnen auf magische Weise im Eiltempo zu schrumpfen. Wie ein Butterstück in der Pfanne ...
Alex holte tief Luft. »Ich hab noch ... jede Menge Fragen«, sagte er in einem bittend, zugleich auch fordernden Tonfall und sah zu ihr auf. Das kompromisslose Blau seiner Augen traf wortwörtlich ins Schwarze.
Sie hob die Brauen und konnte einen Seufzer nicht verhindern. »Ich ja auch«, gestand sie leise, die Wangen auf einmal ganz rosig. »Ich weiß nur nicht, also ... wo und wie ich anfangen soll.«
Sein Brustkorb hob und senkte sich, als hätte er etwas Anstrengendes hinter sich gebracht. Oh, Mann . Es ging ihr also ähnlich, und er fragte sich, ob Sylvie recht hatte und Schicksal nicht nur ein dummes Wort war.
Draußen war es inzwischen späte Dämmerung. Die Wintertage wurden kürzer und kürzer. Der eilig hereinbrechende Abend bestärkte in Alex und Selin das absurde Gefühl, sich schon eine ganze Weile zu kennen. Dabei waren noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen, seit sich ihre Wege gekreuzt hatten. Insgeheim hofften beide, bis zum nächsten Morgen ein paar Antworten zu finden. Antworten und Verständnis ...
»ALEXANDER! Kommt doch endlich wieder ins Wohnzimmer! Hört ihr!« Wie eine schrille Alarmglocke durchschnitt Sylvies raue Stimme die knisternde Atmosphäre in der Küche.
Selin nahm vor Schreck eine steife Sitzhaltung an.
Daraufhin musste Alex grinsen, kräuselte die Stirn, klopfte einmal mit der flachen Hand auf den Tisch und erhob sich. »Komm«, sagte er, »... lass uns zu ihr gehen. Wir fragen mal, was sie essen möchte.« Er klang auf einmal so ... so vertraulich ... was ihr gut tat ... sehr gut sogar ... als hätte er ihr zärtlich über den Kopf gestreichelt ...
Selin folgte ihm mit einem Lächeln in ihren Gedanken.
»Oh, Sie wollen uns bekochen?«, entgegnete Sylvie überrascht, ihre Hände ruhten ineinander gefaltet auf ihrem Schoß wie bei feinen alten Damen. »Alex kann Ihnen sicher helfen. Das macht er gerne, nicht wahr.«
Selin setzte sich wieder ihr gegenüber. Ihr Zeigefinger hob sich und schwebte einen Satz lang in der Luft. »Ich kann Linsensuppe gut ...«
Das stimmte wohl.
Mit sieben Jahren hatte sie von ihrer Mutter gelernt, wie man ‚Türkische Linsensuppe‘ zubereitete, und es nie mehr vergessen. Die damalige Szene war für sie immer noch leicht abrufbar: ... Das einzigartige Gefühl der Geborgenheit tief in ihr drin, der herrliche Duft, der im großen Topf blubbernden Suppe, in ihrer Nase und die schlanke Gestalt ihrer Mutter, blieben unvergesslich und für die Ewigkeit in ihrem Herzen. Eine Hand auf der Hüfte, in der anderen die Schöpfkelle, hatte Meltem gutgelaunt geträllert: »Diese Suppe musst du eins a zubereiten können, Selin, die wirkt nämlich wie ein Zaubertrunk ... für Körper und Geist! Also gib schön acht! Wichtig sind die richtigen Anteile Wasser und Linsen und dann die Gewürze, Cumin und Salz, etwas Tomatenmark und ein winziges Stück gepresster Knoblauch. Zerlassene Butter mit Chiliflocken gehört zum Schluss oben drauf, nicht zu viel, und schön kreisförmig, die Augen essen schließlich mit, verstehst du?«
Manche Erinnerungen waren Gold.
Sylvie schürzte die Lippen und schniefte. Mit einem Papiertaschentuch tupfte sie sich die rote Nasenspitze ab und klemmte eine graue Haarsträhne hinters Ohr.
»Ein passendes Gericht für kalte Winterabende«, bemerkte sie mit einem freudvollen Unterton. »Meiner Erkältung würde es auch gut tun.«
Ihre aufgehellte Stimmung seit Selins Erscheinen erstaunte Alex, vergessen schien ihr Ärger über seine lange Abwesenheit. Vielleicht war Sylvie froh, endlich mal ein weibliches Wesen um sich zu haben. Er war sich nicht sicher, aber der Gedanke gefiel ihm.
»Alex, zeig deiner Freundin doch mal die Wohnung. Außerdem fürchte ich, müsst ihr noch einkaufen, denn ich habe garantiert weder Linsen noch sonstige Hülsenfrüchte im Haus!«
Er schüttelte kaum merklich den Kopf über Sylvies Wortwahl. Seine Freundin . Irgendwann, vielleicht schon morgen, würde sie endgültig und für immer aus seinem Leben verschwunden sein, wie ein zarter Windhauch, der
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