RECKLESS HEARTS
möglicherweise etwas mit der Reise oder dem Zeitraum um 1980 zu tun hatte. »Sie haben ihn allein großgezogen, ihren Sohn?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte, doch sie wollte es auch von Sylvie hören.
»Ja, na ja, fast, meine Mutter, Gott habe sie selig, hat uns unterstützt, nachdem Theodor, ihr zweiter Gatte, verstorben war. Sie war eine große Hilfe ... das war sie wirklich, sowas merkt man immer viel zu spät.«
»Dann haben Sie sich von Alex‘ Vater sehr früh getrennt?«, Selin hoffte inständig, dass sie mit dieser Frage nicht zu weit gegangen war.
Sylvie kramte hektisch nach einem Taschentuch, schnäuzte sich die Nase und griff anschließend nach dem Brillenetui, das bisher unbeachtet auf dem Couchtisch gelegen hatte. Mit äußerst langsamen Bewegungen setzte sie sich ihre Brille auf die feine Nase und legte das Etui beiseite.
»So ist es«, sagte sie schließlich. »Aber nun wollen wir nicht mehr über meine alten Kamellen reden. Möchten Sie mir nicht auch etwas über sich erzählen? Sie haben ein so interessantes Aussehen und so schöne dunkle Haare und Augen. Ich nehme an, dass ihre Eltern nicht aus Deutschland stammen?«
Selin nickte, den Themenwechsel bedauernd. »Sie waren aus der Türkei ...«, sagte sie leise.
»Oh!« Sylvie sah mit einem kritischen Blick durch die runden Brillengläser zu der jungen Frau und erinnerte sich unweigerlich an Alex‘ Worte. »Selin, wissen Sie was, mein Sohnemann hat mich ausdrücklich ermahnt, Ihnen keine persönlichen Fragen zu stellen, und ich will mich auch gerne daran halten, aber ich gebe zu, Sie machen mich neugierig.«
Das war rücksichtsvoll von ihm , dachte Selin und lächelte in sich hinein. Sie fragte sich, wann er zurück sein würde, ihr Sohnemann, und ob sie ihn überhaupt noch zu Gesicht kriegen würde ...
»Ich habe nichts dagegen, falls Sie mich etwas fragen wollen«, erwiderte sie, entschlossen, einen möglichst freundlichen Eindruck zu machen und natürlich darauf hoffend, dass keine prekären Fragen kommen würden.
Sylvies Augen weiteten sich. »Wirklich?«
»Mhm.«
»Na, dann frag ich mich als Erstes natürlich, wo ihre Reisetasche ist, wenn Sie doch verreisen wollen?« Sylvie hob gespannt die Augenbrauen. Doch die Antwort sollte sich verzögern.
Denn Selins Blick wurde mit einem Mal vom Tanz der Kerzenflamme so in den Bann gezogen, dass in ihrem Kopf für einen endlosen Augenblick eine sonderbare Leere entstand. Erst als Sylvies Frage darin widerhallte, sah sie auf und antwortete: »Ich war in Eile und ... ich hatte keine Zeit mehr zum Packen.« Sie zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. »Ich musste schnell weg, da hab ich nur das Nötigste mitgenommen.«
Mehr als ein skeptisches »Oh!« vermochte Sylvie darauf nicht zu erwidern.
Ein einvernehmliches Schweigen legte sich wie ein Seidentuch über beide Frauen, zusammen mit dem dringlichen Wunsch, die Konversation trotz aller geheimen Vorbehalte nicht abbrechen zu lassen. Sie wussten, keine von ihnen gab ihre Geschichte vollständig preis, und dennoch war ihr Austausch wohltuend wie ein tiefer Atemzug, der die Lungen dehnte. Mehr zu erzählen, als die Vernunft es ihnen erlaubt hätte, fühlte sich komischerweise unbedenklich an, unbedenklich und spannend! So sonderbar es auch war.
»Und Sie wissen nicht«, begann Sylvie schließlich, «... welches Reiseziel Ihnen am besten zusagt, ist es so?«
»Ja, genau. Ich dachte zuerst an Spanien, weil es da immerhin warm ist, aber Italien oder Frankreich wären auch eine Möglichkeit, bloß ... ich spreche leider außer Deutsch nur ein klitzeklein bisschen Türkisch und einen kläglichen Rest Schulenglisch und frage mich, wie ich so zurechtkommen soll?«
»Und warum reisen Sie nicht in die Türkei, in Ihr altes Heimatland sozusagen, und ein bisschen Türkisch können Sie auch noch, wie Sie eben sagten?«
Altes Heimatland? Ein wenig irritiert über die Formulierung musste Selin innehalten und nachdenken, denn sie kannte schließlich nur ein Heimatland und das war Deutschland. Was Sylvie wohl meinte, betraf doch eher ihre Eltern.
»Ja, aber, ich könnte da nur als Touristin einreisen, weil ich einen deutschen Pass habe, keinen türkischen, und ich könnte außerdem dort nicht arbeiten, also jedenfalls würde mir die Erlaubnis fehlen.«
Das waren natürlich gute Gründe, die sie da anbrachte, aber nicht die wirklich entscheidenden, die kamen nach kurzem Zögern hinterher: »Dann habe ich in der Türkei väterlicherseits
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