RECKLESS HEARTS
Duschhandtuch einen überdimensionalen Turban und trat erneut vor den Spiegel. Irgendwo in ihrer Tasche musste ein alter, schwarzer Kajalstift sein. Sie hatte ihn bestimmt schon jahrelang nicht mehr benutzt. Lange suchte sie nach ihm, wollte fast schon aufgeben, als der kurze Stift doch noch zwischen ihre Finger geriet.
Vorsichtig zog sie eine satte Linie auf ihre Unterlider und verwischte die dunkle Farbe mit einem Finger zwischen die Wimpern. Auf den Oberlidern zog sie mit größter Sorgfalt einen akkuraten Strich und ließ ihn an den Enden in einem Bogen enden.
Kritisch betrachtete sie das Ergebnis. Hm? Etwas Lipgloss und Wimperntusche wären auch nett gewesen, aber leider besaß sie keine weiteren Schminkutensilien.
Sie nahm das Handtuch von ihrem Kopf und legte es zusammengefaltet auf den Wannenrand. Mit den Fingern kämmte sie langsam und geduldig durch die langen Haare.
Was sie im Spiegel sah, war zwar nicht umwerfend, glaubte sie, aber okay. Es war weniger ihre Bescheidenheit, die sie zu dieser Einschätzung brachte, als vielmehr schlichte Unerfahrenheit. Denn hätte sie mehr Zeit draußen in der realen Welt verbracht, als sich in ihrem Kämmerlein einen Film nach dem anderen anzusehen, hätte sie vielleicht erkannt, dass sie ... nun ja, nicht von schlechten Eltern war ...
Allein im Wohnzimmer zu sitzen und eins von Sylvies Büchern zu lesen, war sicher nicht das, wonach Selin der Sinn stand.
Vorsichtig schob sie die halb offenstehende Tür von Alex‘ Zimmer auf und trat ein. Er saß mit dem Rücken zu ihr an seinem Schreibtisch und starrte auf den Computerbildschirm. Nach einer kurzen Verzögerung spähte er über die Schulter und lächelte verhalten. »Hey, siehst erfrischt aus«, bemerkte er, widmete sich aber sofort wieder seiner Arbeit, oder was auch immer er da tat.
»Mhm, ich fühl mich auch so, vielen dank ... für alles, mein ich, was du für mich getan hast!« Ihre Stimme hatte beinah säuselnd geklungen, was ihr unangenehm war. Zum Glück sah er ihr Erröten nicht.
Alex schwieg konzentriert.
Selin überlegte, was sie jetzt tun sollte? Sie war so müde und doch so aufgekratzt. Mit ihm allein in einem Zimmer, genau genommen in seinem Zimmer zu sein, war eine völlig irre Situation und aufregender als irgendein Film, den sie je gesehen hatte. Mit einer Selbstverständlichkeit hatte sie sich ihm aufgedrängt und mit ebensolcher hatte er sich ihrer angenommen. Bei den Wachowski Geschwistern würde jetzt eine Liebesszene folgen ... Ähm, ja, im Film ...
Sie kam näher und sah ihm über die Schulter. Ihr frischer Duft zog sofort in seine Nase und verursachte ein Ziehen in allen möglichen Regionen seines Körpers. Seine Konzentration war perfekt gespielt. In Wahrheit war er völlig von der Rolle. Er fragte sich ernsthaft, ob er das hier durchstehen würde, ohne dass sie mitkriegte, wie sehr er sich nach Intimität mit ihr sehnte. Er fragte sich, was er gegen sein Gewissen ausrichten sollte, das bereit war, wie ein hungriges Monster seine Selbstachtung restlos zu verspeisen, sollte er sich nicht benehmen können.
»Ähm, ist das das Spiel, an dem du arbeitest«, fragte sie, viel zu dicht an seinen Kopf geneigt.
Er nickte mit einem knappen »Mhm«. Vorsichtig lehnte er sich ein wenig zurück und verschränkte die Arme schützend vor der Brust, den Blick konsequent auf den Bildschirm gerichtet.
»Worum geht‘s denn in dem Spiel?« Sie betrachtete eingehend die Grafik. Selin‘s Interesse war geweckt, als sie die futuristische Großstadtkulisse sah.
»Ähm, ... das Spiel steckt noch in den Anfängen«, sagte er und räusperte sich, bevor er weitersprach. »Es soll ein online Rollenspiel werden.«
»Aha.«
Ihre Seitenblicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie schnell wieder auf das Spiel starrten.
»Also, es gibt fünf Welten, die unterschiedliche Zeitebenen darstellen. Wenn das Spiel startet, kannst du eine Welt, eine Zeitebene, aussuchen und deinen Avatar da reinsetzen. Dein Avatar muss sich in dieser Welt behaupten, begegnet anderen Avataren und Figuren und muss mit ihnen interagieren. Dabei entwickelt er sich ständig. Dann gibt es ab einem bestimmten Level immer wieder Weltenwechsel, den das Programm nach einem ... einem Zufallsprinzip durchführt. Sobald dein Avatar in einer anderen Welt ist, muss er sich mit dem individuellen Entwicklungsstatus seines Charakters dort zurechtfinden, was bedeutet, dass er große Schwierigkeiten bekommen oder aber auch Vorteile
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