RECKLESS HEARTS
überspielen. Sie hatten die ganze Nacht in einem Bett verbracht, und jetzt war es morgens und sie waren nüchtern.
»Oh, okay, wenn du meinst ...«, sagte er. Ohne weitere Worte stieg er schnell auf die Leiter und sprang von den obersten Stufen auf den Boden. Selins Blick folgte ihm stumm.
»Ich geh mal den Frühstückstisch decken und ... Kaffee aufsetzen.« Es klang vernuschelt und überstürzt, aber Selin beobachtete ihn aus anderen Gründen. Sie war absolut fasziniert von seinem kräftigen und wohlproportionierten Körper. Wie von einem Bildhauer gemeißelt , dachte sie voller Bewunderung und mit einem Zittern ganz tief in ihrem Bauch ... oder irgendwo da in der Nähe.
Hastig stieg er in seine Jeans, und bevor er sie zuknöpfte, streifte er einen Kapuzenpulli über sein T-Shirt.
»Ich komme auch gleich«, rief sie ihm hinterher, während er aus dem Zimmer lief.
Selin krabbelte ans Bettende, um einen Blick nach draußen werfen zu können. Die Fensterscheibe schien nass, als hätte es geregnet. Der Himmel war grau und dunkel und nicht besonders freundlich an diesem Morgen.
Aufgeregt kletterte sie nach unten und zog sich an. Sie suchte nach einer Uhr, um auszurechnen, wie viel Stunden ihr bis 15 Uhr noch blieben, fand aber keine.
Aus der Küche drangen Klappergeräusche zu ihr durch und ganz leise vernahm sie Alex‘ und Sylvies Stimmen.
Selin hatte das erhebende Gefühl, dass ihr Leben jetzt pulsierte. Sie war so wach und entschlossen und mit einem klaren Ziel vor Augen! Ein Ziel, das sie für nichts und niemanden aufgeben würde. Alles, was sie gerade erlebte, unterlag einzig ihren eigenen Entscheidungen. Diese Tatsache fühlte sich so überwältigend an, dass alles andere an Gefühlen und Gedanken chancenlos dahinter trat.
Alex war von seiner Mutter ein weiteres Mal überrascht worden. Auf dem dekorativen Frühstückstisch stand der Brotkorb mit frischen Brötchen vom Bäcker. Niemand anderes als Sylvie hatte sie nach dem Aufstehen geholt.
»Oh, großer Gott, das Wetter ist heute wirklich ganz furchtbar eklig, sag ich dir!« Sie nahm Tassen aus dem Schrank und warf kritische Seitenblicke auf ihren schweigsamen Sohn. Alex verteilte das Besteck und die Servietten.
»Hast du schlecht geschlafen, Alex?«
»Nein, wieso?« Er hob überrascht die Brauen.
»Weil du außer ‚Guten Morgen‘ nichts weiter gesagt hast!«
»Ich wollte dich nicht unterbrechen«, behauptete er. »Aber, also, ich find‘s toll, dass du wieder rausgehst ... sogar bei so einem ekligen Wetter.« Jetzt schmunzelte er für sie.
Sylvie seufzte. »Ja, der Schnee schmilzt, wie schade. Es regnet seit heute Morgen, und irgendwie fühlt sich die nasskalte Luft noch kälter an. Brrr ...« Sie stellte die Tassen auf den Tisch und hielt inne. »Ist Selin schon wach?«
»Ja, sie kommt gleich«, antwortete er und hörte im selben Moment, wie Selin im Bad verschwand.
Sie saßen lange am Frühstückstisch zusammen, als wär‘s eher ein Brunch, und unterhielten sich über alles Mögliche, nur nicht darüber, dass Selin in knapp vier Stunden auf dem Flughafen sein musste. Es war eine künstliche, aber wohlwollend freundliche Atmosphäre, die Sylvie mit unfreiwillig komischen Beiträgen aufheiterte und Alex mit Haltung durchstehen wollte.
»Ich glaube, ich habe unseren Bäcker zu Tode erschreckt, als ich nach so langer Zeit wieder seinen Laden betrat«, erzählte Sylvie halb amüsiert und halb erstaunt über ihr Erlebnis. »Er sah mich an und meinte nur, was denn um Gottes willen mit meinen Haaren passiert sei? Und ich dachte, er meint die Frisur.«
Alex und Selin hoben fragend die Brauen, und Sylvie fuhr fort: »Was er meinte, meine Lieben, war aber das Grau!« Sie biss in ihr Marmeladenbrötchen und kaute energisch.
»Ich find das Grau schön«, warf Alex ein, erntete jedoch einen kritischen Blick seiner Mutter und musste feststellen, dass seine Bemerkung ganz offensichtlich nicht in ihrem Sinne gewesen war.
»Hm? Also, wenn ihr mich fragt. Es lässt mich doch ganz schön alt aussehen.« Sylvie wandte sich an Selin. »Deswegen kam mir die verrückte Idee, einen Friseur aufzusuchen und, tja, also, die Haare färben zu lassen. Was haltet ihr davon?«
Selin blickte unsicher zu Alex, dann wieder zu Sylvie. »Wenn Sie das möchten, warum nicht? Welche Farbe soll es denn sein?«
»Oh, Liebchen, ich glaube, ich hätte ganz gerne meine Originalfarbe wieder, ein schlichtes Mittelbraun.«
Alex räusperte sich. »Tu das, Mama«, ermutigte
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