RECKLESS HEARTS
Computer. »Das wären ... 155 Euro bitte.«
Selin legte ihr zwei Hundert-Euro-Scheine hin und steckte das Restgeld ein. Im Anschluss bekam sie die Reisedokumente ausgehändigt und bedankte sich kaum hörbar.
Ungläubig und fassungslos sah sie auf ihr Flugticket nach London und fühlte sich, als hätte man ihr mehrere Elektroschocks verpasst, deren Wirkung noch anhielt.
Von nun an hatte sie kaum mehr als zwei Stunden, bis sie einchecken konnte ... bis ihr neues Leben begann ...
Sie stellten sich an die Seite.
Selin sah zu Alex hoch. »Jetzt ist es so weit«, sagte sie und hoffte inständig, er möge etwas Nettes sagen, etwas, dass ihr den Abschied erleichtern würde, aber Alex‘ tat sich schwer ... sehr schwer sogar.
Er schluckte und nickte und fand kaum Worte, also nahm er den Rucksack von der Schulter und half ihr, ihn sich umzuschnallen.
»Danke«, sagte sie. »Für alles!«
»Soll ich gehen?«, fragte er knapp.
Sie nickte.
Es war einfach das Beste. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie die verbleibenden zwei Stunden zusammen aushalten sollten.
»Dann ... also, du hast ja meine Handynummer.« Er versuchte normal zu klingen, aber seine Stimme gehorchte nicht, klang belegt und dumpf und armselig ...
»Mhm.«
»Falls was ist, oder auch nicht. Du kannst dich ja einfach mal melden.«
»Mach ich.«
Ihr Lächeln war nutzlos.
»Kauf dir noch einen Stadtplan von London«, riet er ihr.
»Gute Idee!«
»Also dann ... Pass auf dich auf, ja?«
»Du aber auch!«
Seine Arme schlangen sich um sie und drückten sie samt Rucksack gegen seine Brust. Sollte sie doch ruhig hören, wie sein Herz randalierte.
Selin schloss die Augen.
Sie wusste nicht, ob es sein Schmerz oder ihr Eigener war, den sie jetzt so intensiv spürte. Ihre Gedanken zogen sie weg ... Jeder Neuanfang kostet Herzblut , hatte ihr Vater damals gesagt, nachdem ihre Mutter gestorben war. Sie hatte es ihm so übel genommen, dass sie ihm monatelang nicht in die Augen sehen konnte. Neuanfang hatte für Selin wie Hohn geklungen ...
Ein bisschen verstehe ich jetzt, was du meintest, Baba ... dachte sie sentimental, während Alex mit aller Macht gegen die drohenden Tränen kämpfte.
Schließlich drückte sie sich von ihm weg und sagte mit fester Stimme: »Leb wohl, Alex.«
Er sah sie ungläubig an. Was? Leb wohl? Hatte sie wirklich »Leb wohl« gesagt?
»Alex, geh bitte!«, flehte sie jetzt.
Er riss sich zusammen. Er wollte sie mit einem Lächeln im Gesicht verabschieden und nicht als Trauerkloß.
»Also, dann ... Tschau … Du packst das schon!«, sagte er und tippte ihr kurz auf die Nase.
Na also, geht doch.
Selin verschwand innerhalb weniger Sekunden aus seinem Blickfeld. Er konnte sich noch nicht wegrühren. Seine Augen suchten sie verzweifelt in dem Meer aus fremden Gesichtern, bis sie irgendwann aufgaben.
Sein Herz stolperte und fiel, kam nicht mehr auf die Beine, lag hilflos am Boden und war gänzlich aus dem Takt.
In diesem desolaten Zustand fuhr Alex nach Hause.
Längst war es schon dunkel, als er die Wohnungstür aufschloss. Seltsamerweise hatte Sylvie nirgends Licht gemacht. Alex knipste das Flurlicht an, hängte seine Jacke weg und stieg aus seinen Boots. In seine Verzweiflung mischte sich jetzt auch noch Unbehagen.
Seine Mutter war weder im Wohnzimmer noch in der Küche. Also musste sie entweder in ihrem Zimmer sein oder … sie war nicht zuhause?
Ihre Zimmertür war verschlossen.
Alex lauschte, vernahm aber keinen Laut. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter und schob die Tür einen Spalt auf.
»Mama, bis du hier?«, fragte er leise.
Im Zimmer war es stockdunkel, aber durch das einfallende Flurlicht konnte er ihre Umrisse auf dem Bett erkennen.
»Mama?« Seine Stimme ließ höchste Besorgnis erkennen.
»Alex, ich ... ich sitz hier nur rum«, sagte sie endlich. Er hörte sofort, dass sie geweint hatte. Schniefend putzte sie sich die Nase.
»Kann ich Licht machen?«
»Ja, komm ruhig rein.«
Sie war völlig verheult.
Doch nicht etwa, weil Selin gegangen war? Drehten sie jetzt beide durch?
Alex setzte sich neben sie und sah, dass sie etwas silbrig Glänzendes zwischen ihren Händen hielt.
Er deutete mit dem Kinn. »Was ist das?« Die Frage war einfach aus ihm herausgeflutscht, bevor er sie aufhalten konnte.
Sie schwieg.
Dann sah sie ihn an und suchte nach Worten.
Wo war sein Trost?
Alex konnte nicht mehr. Er konnte ihr Bündel nicht auch noch tragen, was auch immer es war. Nicht jetzt. Nicht
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