Reckless - Lebendige Schatten
Schmerz, wie Jacob ihn noch nie gespürt hatte. Etwas schlug ihm die Zähne ins Herz. Die Scherbe fiel ihm aus der Hand, und der Schrei, der über seine Lippen kam, war so laut, dass auf der anderen Straßenseite ein Fenster aufging.
»Jacob?« Fuchs griff nach seinen Schultern.
Er wollte etwas sagen, irgendetwas Beruhigendes, aber alles, was er hervorbrachte, war ein Keuchen. Er blieb nur auf den Beinen, weil Fuchs ihn festhielt. Sein altes Ich wollte sich vor ihr verstecken, zu stolz, sich so verletzlich zu zeigen, so hilflos. Aber der Schmerz wollte einfach nicht aufhören.
Atme, Jacob. Atme. Es wird vorbeigehen.
Der Name der Dunklen Fee hatte sechs Buchstaben, aber er konnte sich nur noch an fünf erinnern.
Er lehnte sich gegen die Tür, vor der sie standen, und presste die Hand auf die Brust, sicher, dass ihm im nächsten Augenblick das eigene Blut durch die Finger rinnen würde. Der Schmerz flaute ab, aber selbst die Erinnerung daran ließ ihn schneller atmen.
Es wird nicht angenehm sein. Die Untertreibung des Jahres, Alma.
Fuchs hob die Scherbe auf. Sie war zersprungen, aber es klebte kein Blut daran. Fuchs blickte ungläubig auf das saubere Glas. Dann zog sie Jacob die Hand von der Brust. Die Motte über seinem Herzen trug einen Fleck auf dem linken Flügel, geformt wie ein winziger Schädel.
»Die Fee holt sich ihren Namen zurück.« Er konnte kaum sprechen. Er glaubte, den eigenen Schmerzensschrei immer noch in der Kehle zu spüren.
Reiß dich zusammen, Jacob. Oh, sein verdammter Stolz. Er streckte die Hand aus, auch wenn sie zitterte. »Gib mir die Scherbe.« Fuchs schob sie sich in die Jackentasche und zog ihm den Ärmel über den entblößten Unterarm.
»Nein«, sagte sie. »Und ich glaube kaum, dass du genug Kraft hast, sie mir abzunehmen.«
18
DIE HAND IM SÜDEN
D er Wassermann strapazierte Nerrons Nerven noch am wenigsten. Eaumbre … wenn ihm der eigene Name über die schuppigen Lippen kam, glaubte man, den Schlamm eines Tümpels in den Ohren zu spüren. Selbst Louis war zu ertragen, auch wenn er ständig nach der nächsten Mahlzeit fragte und jedem Bauernmädchen hinterherritt. Aber Lelou! Der Käfer redete ununterbrochen, wenn er nicht gerade in sein Notizbuch kritzelte. Jedes Schloss zwischen den immer noch winterkahlen Weinbergen, jede verfallene Kirche, jeder Ortsname auf irgendeinem verwitterten Wegweiser löste einen Schwall von Erklärungen aus. Namen, Jahreszahlen, Fürstenklatsch. Sein Geschwätz war wie das Summen einer Hummel, die Nerron im Gehörgang saß.
»Lelou!«, unterbrach er ihn irgendwann, als er erläuterte, warum das Dorf, durch das sie ritten, mit Sicherheit nicht der Geburtsort des Gestiefelten Katers war. »Siehst du das hier?«
Arsene Lelou verstummte und blickte verwirrt auf die drei Gegenstände, die Nerron sich aus einem Lederbeutel in die Hand schüttelte. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis er begriff, was er vor sich hatte.
»Du siehst richtig!«, sagte Nerron. »Ein Finger, ein Auge und eine Zunge. Sie haben mich alle belästigt. Was denkst du, würde ich dir herausschneiden?«
Schweigen. Köstliches Schweigen.
Nerron hatte die Drei Andenken, wie er sie zärtlich nannte, in einer Folterkammer der Onyx aufgesammelt. Sie verfehlten nie ihre Wirkung. Man musste an seinem schlechten Ruf arbeiten, vor allem, wenn man wie er das Abschneiden von Fingern und Ausstechen von Augen nicht als Vergnügen empfand.
Lelous Schweigen hielt tatsächlich an, bis die Klostermauern von Fontevaud vor ihnen auftauchten. Es reichte ein Blick durch das morsche Holztor, um zu sehen, dass die Abtei verlassen war. In den Kreuzgängen wucherten Nesseln und in den ärmlichen Zellen hausten nur noch die Mäuse. Der einzige Friedhof, den sie entdecken konnten, bestand aus acht Holzkreuzen, in die die Namen toter Mönche und ihr Sterbedatum geschnitzt waren. Keins der Gräber war mehr als sechzig Jahre alt, aber die Hand war, falls der Käfer recht hatte, vor mehr als dreihundert Jahren hier begraben worden.
Nerron verspürte den dringenden Wunsch, Lelou in mondsteinblasse Scheiben zu schneiden. Der Käfer las den Gedanken in seinen Augen und versteckte sich hastig hinter Eaumbre. Lelou hatte die Drei Andenken nicht vergessen.
»Der Bauer«, stammelte er und wies mit zitterndem Finger auf einen alten Mann, der auf den verwilderten Feldern hinter dem Kloster Kartoffeln ausgrub. »Vielleicht weiß er etwas.«
Der Alte ließ seine spärliche Ernte fallen, sobald er Nerron auf
Weitere Kostenlose Bücher