Reckless - Lebendige Schatten
sich zukommen sah. Er starrte ihn so entgeistert an, als wäre der Teufel persönlich aus der feuchten Erde gefahren. In Lothringen war ein Goyl immer noch ein seltener Anblick, aber Kami’en würde das sicher bald ändern.
»Gibt es hier noch einen anderen Friedhof?«, fuhr Nerron den Alten an.
Der Bauer bekreuzigte sich und spuckte ihm vor die Füße. Im Volksglauben half das gegen Dämonen. Rührend. Gegen Goyl half es nicht. Nerron wollte den Alten gerade an seinem dürren Hals packen, um ihn etwas durchzuschütteln, als das Männlein da, wo es stand, auf die Knie fiel.
Louis kam mit Lelou und dem Wassermann auf sie zugestiefelt.
Die prinzlichen Kleider waren schon etwas lädiert, aber sie sahen immer noch tausendmal besser aus als alles, was der Alte je am Leib getragen hatte. Der Mann hatte bestimmt keine Ahnung, dass er den Kronprinzen von Lothringen vor sich hatte – der Alte sah nicht aus, als lese er regelmäßig die Zeitung –, aber jeder Untertan weiß, wie seine Herren aussehen, und dass man besser tut, was sie sagen.
»Fragt ihn nach dem alten Friedhof!«, raunte Nerron Louis zu.
Er erntete nur einen irritierten Blick. Königssöhne sind es nicht gewohnt, Anweisungen entgegenzunehmen. Aber Lelou kam ihm zu Hilfe.
»Der Goyl hat recht, mein Prinz!«, säuselte er Louis in das parfümierte Ohr. »Euch wird er sicher antworten!«
Louis warf den schmutzigen Kleidern des Bauern einen angeekelten Blick zu. »Gibt es hier noch einen Friedhof?«, fragte er mit gelangweilter Stimme.
Der Alte duckte den Kopf zwischen die schmächtigen Schultern. Sein knochiger Finger wies zwischen die Tannen, die hinter den Feldern wuchsen. »Sie haben die Kirche daraus gebaut.«
»Woraus?«, fragte Nerron.
Der Alte hielt den Kopf immer noch ehrfürchtig gesenkt. »Die ganze Erde war voll damit!«, stammelte er, während er sich unauffällig ein paar Kartoffeln in die ausgebeulten Taschen schob. »Was sollten sie sonst damit machen?«
Die Kirche, zu der er sie führte, unterschied sich in nichts von anderen Kirchen der Gegend. Derselbe graue Stein, ein klobiger Turm mit flachem Dach und ein paar verwitterte Zinnen, aber der Alte suchte das Weite, sobald Nerron die morsche Tür aufstieß.
Selbst das Wappen, das hinter dem Altar in die Wand eingelassen war, bestand aus menschlichen Knochen. Die Säulen waren mit Schädeln verkleidet und in den vergitterten Seitenkapellen stapelten sich die Knochen bis zur Decke. Natürlich gab es auch Hände: Sie dienten als Kerzenleuchter oder spreizten sich als Ornamente an den Wänden. Nerron trat einem der Schädel frustriert das Gesicht ein. Wie, bei der grünen Haut seiner Mutter, sollte er hier die richtige Hand finden? Während er bis zum Hals in morschen Knochen steckte, würde Reckless in aller Ruhe den Kopf und das Herz einsammeln.
»Was suchen wir noch mal?« Louis schob einem Schädel den Finger in die leere Augenhöhle.
»Die Armbrust Eures Vorfahren.« Das feuchte Flüstern des Wassermanns klang in der leeren Kirche noch bedrohlicher.
»Eine Armbrust?« Louis verzog verächtlich den Mund. »Hofft mein Vater, dass die Goyl sich totlachen, wenn sie uns angreifen?«
»Es ist eine sehr ungewöhnliche Armbrust, mein Prinz …«, hob Lelou an. »Und es ist etwas komplizierter, wenn ich den Goyl richtig verstanden habe.« Er spitzte die Lippen beim Sprechen wie eine Kröte, die Gift spuckte. »Wir müssen zuerst eine Hand und dann …«
»Erklär ihm das später«, unterbrach Nerron ihn barsch. Er trat zu einer der Seitenkapellen und starrte durch das Gitter auf die Knochen, die sich dahinter stapelten. »Wenn Lelou recht hat, ist die Hand gevierteilt. Außerdem ist sie vermutlich unverwest und hat vergoldete Fingernägel.« Alle Zauberer vergoldeten sich die Nägel, um zu verbergen, dass das Hexenblut sie schimmeln ließ.
»Pfui Teufel!«, murmelte Louis, während er mit seinen diamantenen Jackenknöpfen spielte. Es fehlte nicht einer. Nicht mal auf die Däumlinge war noch Verlass. Tue, als wäre er nicht da, Nerron. Weder er noch der Wassermann noch der schwatzende Käfer.
Er stemmte das Gitter mit dem Säbel auf und versank bis zu den Knien in Knochen. Na bestens. Ein Unterarm zersplitterte unter seinen Stiefeln. Goylknochen versteinerten nach dem Tod wie ihr Fleisch. Wesentlich appetitlicher als die menschliche Verwesung.
»Das ist albern. Ich such mir ein Wirtshaus.« Der gelangweilte Ausdruck auf Louis’ Gesicht hatte Ärger Platz gemacht. Er hatte ein
Weitere Kostenlose Bücher