Reckless - Lebendige Schatten
Armbrust?«
Nerron zuckte die Achseln. »Es spielt keine Rolle. Weil ich sie finden werde.«
»Gemeinsam mit dem Sohn des Krummen?« Hentzaus Stimme klang so barsch, als spräche er mit einem seiner Soldaten.
Nimm dich in Acht, alter Mann.
»Wir müssen zurück.« Kami’en wandte sich um. »Hentzau hat recht. Von nun an suchst du allein.«
Hentzau warf Nerron einen Beutel Silber zu. Spesen. Der König der Goyl zahlte weit weniger großzügig als die Onyx, aber Nerron hätte auch ohne Bezahlung für ihn gearbeitet. Nicht alles war käuflich. Er lauschte ihren Schritten, bis sie in dem Atemtunnel des Drachen verklangen.
Die Parade würde bald beginnen, für die murrenden Bürger von Vena. Der Goyl zeigte seine schwangere Menschenfrau. Ihre Untertanen hatten dem Kind schon viele Namen gegeben. »Das Monstrum«, »Der hautlose Prinz« … Jeder schien anzunehmen, dass es ein Junge sein würde. Mischlinge von Mensch und Goyl lebten nicht lange. Manchmal sah man sie in den Freakshows ländlicher Jahrmärkte. Einige waren so versteinert, dass sie sich kaum bewegen konnten, andere hatten Haut, durch die man Knochen und Organe wie unter Glas sah – oder gar keine Haut. Aber Kami’en hatte die feste Absicht, dieses Kind am Leben zu erhalten. Angeblich hatte er sogar die Dunkle Fee um Hilfe gebeten.
Was hatte Reckless in dem Museum gesucht?
Nerron lehnte sich gegen den klauenzerfurchten Stein. Um ihn herum roch die Dunkelheit nach den Ausdünstungen des Drachen. Die Spinne kroch ihm schläfrig auf die Hand, als er das Medaillon öffnete. Warum hatte er sie nicht früher gefragt, ob Reckless wirklich tot war? Weil er die Nachricht am Ende nicht hatte hören wollen? Interessant …
Er musste die Spinne mit einer Extraportion Lapislazuli füttern, bis sie zu tanzen begann.
Keine Droschken … verdammt … Straßensperren … Blumen überall …
Nerron spürte, wie sich ihm ein Lächeln aufs Gesicht stahl. Ja, er war tatsächlich noch am Leben. Die Spinne tanzte. Kutscher! Was? Nein. Zum Stachligen Tor …
Sieh an. Vielleicht würde die Hexenzunge doch nicht nötig sein.
36
VERSCHWUNDEN
D as Tor des Juwelierviertels wurde seinem Namen nur bei Nacht gerecht. Jacob hatte die Stacheln, die es bei Dunkelheit trieb, schon im eigenen Fleisch gespürt, aber diesmal war es Mittag, als er das Tor passierte, und die eisernen Flügel standen einladend offen.
Das Juweliersviertel war einer der ältesten Stadtteile Venas. Seine Gassen waren selbst für leichte Droschken zu eng, und in den Hinterhöfen fanden sich noch Ansammlungen winziger Häuser aus der Zeit, als alle Juweliere Elfen beschäftigt und Heinzel als Glücksbringer gegolten hatten.
Hippolyte Ramee hatte die Heinzel schon vor Jahren vertrieben, weil er sie beim Stehlen ertappt hatte, aber er arbeitete immer noch mit Elfen. Er verbarg sie im Hinterzimmer, um nicht als altmodisch zu gelten, doch der silbrige Staub, den sie beim Fliegen hinterließen, setzte sich Jacob auf den Mantel, sobald er die Ladentür öffnete.
Der Schmuck, den Ramee herstellte, war nicht nur in Vena berühmt. Der Juwelier stammte aus Lothringen und hatte bei dem berüchtigten Goldschmied von Ponte-de-Pile gelernt. Es gab viele Geschichten darüber, wie Hippolyte in seinem Dienst beide Füße verloren hatte, eine grausiger als die andere. Ramee schwieg sich über die Wahrheit aus. Die Goldfüße, die er sich geschmiedet hatte, um seinem Meister zu entkommen, hatte Jacob mit eigenen Augen gesehen, doch an diesem Morgen steckten sie in geknöpften Stiefeln.
Hippolyte Ramee war seit dreißig Jahren der offizielle Goldschmied des austrischen Kaiserhauses, und soweit Jacob wusste, hatten die Goyl an seiner Stellung nichts geändert. Es hatte Ramees Augen nicht gutgetan, all die Jahre winzige Steine in Gold und Silber zu fassen. Seine Brillengläser waren so dick, dass seine trüben Augen groß wie die eines Kindes durch die Linsen blickten.
»Haben Sie einen Termin? Wenn nicht, können Sie gleich wieder gehen.« Ramees Launen waren ebenso berühmt wie sein Schmuck. Er hatte schon Abgesandte der Kaiserin aus dem Laden geworfen. Aber die Schönheit des Schmucks, der ringsum in den verglasten Schränken ausgestellt war, ließ die Pracht von vielen fürstlichen Schatzkammern verblassen. Halsketten, Armbänder, Diademe und Broschen, Rubine, Smaragde, Topas und Bernstein, umsponnen von Gold und Silber, als wüchse es dem alten Mann, der hinter dem einfachen Holztisch saß, aus den
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