- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
aus, die Bäume kauerten im Schnee.
Sie drehte sich zu ihrer Großmutter um, deren Gestalt
sonderbar länglich wirkte, wie gestreckt, fast so, als wären ihre Gliedmaßen aus den Gelenken gerissen worden.
Valerie trat näher. Die Gestalt regte sich, richtete sich langsam auf. Valerie wich entsetzt zurück, wollte davonlaufen …
Doch es war nur Großmutter. Die alte Frau schenkte ihr ein Lächeln, während sie sich den Schlaf aus den Augen blinzelte.
Nachdem Valerie ein kaltes Frühstück hinuntergeschlungen hatte, wickelte sie sich zum Schutz gegen die Kälte in beide Mäntel, den alten und den neuen, und eilte durch den Wald nach Hause.
»Mutter?«, rief sie, als sie ins Haus trat.
Suzette saß auf einem Stuhl und starrte gramerfüllt in den kalten Kamin. Sie schaute auf.
Valerie fuhr ein Stich durchs Herz. Sie hätte bleiben und mit ihr zusammen warten sollen. »Ist Papa …?« Sie wollte die Frage nicht aussprechen, denn sie fürchtete sich vor der Antwort.
»Es geht ihm gut«, sagte Suzette und betrachtete ihre Hände. »Die Männer sind zurück. Sie sind jetzt in der Schenke.«
Valerie nickte, außerstande, nach Peter zu fragen.
»Du siehst schön aus«, wisperte Suzette mit Tränen in den Augen, als sie den roten Mantel bemerkte.
Valerie wandte sich ab und wollte in die Dachkammer hinaufklettern, da stand ihre Mutter auf und fasste sie am Arm. »Valerie, was hast du da am Handgelenk?«, fragte sie und beugte sich neugierig vor.
»Nichts. Ein Geschenk von Henry.« Valerie versuchte, es zu verbergen, weil es ihr peinlich war. Sie wollte noch nicht als Frau angesehen werden, war noch nicht bereit, von Männern Schmuck anzunehmen. Und niemand sollte sehen, dass sie Henrys Geschenk trug. Aber es war ihr fast noch peinlicher, dass es ihr peinlich war, und so zeigte sie es.
Ihre Mutter betrachtete es lange.
»Valerie«, sagte sie nach einer Weile, »hör mir zu. Du musst dieses Armband tragen. Nimm es nicht ab. Du bist jetzt eine versprochene Frau.«
Valerie nickte unbehaglich und stieg die Leiter zum Dachboden hinauf. In der Geborgenheit ihres Zimmers zog sie sich um. Sie bewunderte ihren neuen roten Mantel, aufs Neue erstaunt, wie schön er war.
Die meisten Mäntel waren bieder und aus dickem, derbem Webstoff gefertigt. Aber dieser hier war weder steif noch kratzig. Der Stoff war unglaublich dünn und fließend weich, als wäre er aus Rosenblättern gemacht. Und er fühlte sich kühl an.
Wenn sie ihn auf den nackten Armen und zwischen den Fingern spürte, fühlte sie sich stärker als je zuvor. Er hatte etwas zu Natürliches, war wie eine zweite Haut, die schon immer zu ihr gehört hatte. Sie fühlte sich stark, und der Mantel weckte in ihr die Lust, wie ein Raubtier vom Dachboden zu springen und schnell durch das Dorf zu laufen, vorbei an dem Wald und hinaus auf die Felder, wo es nicht mehr regnete.
Leise schlich sie an der Mutter vorbei aus dem Haus und eilte zur Schenke.
Die Männer, die vom Mount Grimmoor zurückgekehrt waren, ohne zuerst zu Hause vorbeizuschauen, rochen nach Erde und Schweiß. Valerie spürte förmlich die Energie, die noch durch ihre Körper pulsierte. Sie ging außen um die Menge herum, lehnte sich an eine Wand und hörte zu.
Wie bei allen Zusammenkünften dieser Art hielt sich Valerie abseits und blieb für sich. Ein paar Dorfbewohner bemerkten sie – der rote Mantel stach hervor, aber das gefiel ihr. In ihrem roten Gewand fühlte sie sich sicher. Von heute an würde sie ihn immer tragen.
Die Schenke war wie eine altertümliche Fundstätte, die in ihrem Schmutz die Geschichte des Dorfes barg. Seit dem Tag, an dem die Wände der Gaststube zusammengenagelt worden waren, schnitzten Männer Zeichen in das Holz, Initialen natürlich, aber auch Spiralen und Gesichter, Pfeile und Kaninchen, Schlangen, Kleeblätter, ineinander greifende Kreise, Strahlenkreuze. Die Polster der Eckbänke starrten vor Schmutz, nachdem sie für die Bequemlichkeit so vieler verschiedener Besucher gesorgt hatten. Von großen Bienenwachskerzen flossen dicke Tropfen auf die Tische und erkalteten zu harten Klumpen, die häufig monatelang dort kleben blieben, bis sie ein nervöser Zecher mit schmutzigen Fingernägeln abkratzte. Die Wildschädel, die sich an der Wand gegenüber reihten, schienen zu lächeln, als hätten sie ein süßes Geheimnis mit in den Tod genommen.
Valerie ließ den Blick durch die Gaststube schweifen. Sie entdeckte ihren Vater und dann Peter. Er sah schön aus nach seiner
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