- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
kehrte der brennende Schmerz über Peters Worte zurück, und sie wusste, dass all das jetzt ohne Bedeutung war.
»Es gibt einen anderen, nicht wahr?« Großmutter beugte sich vor.
»Es gibt einen …«, sagte Valerie langsam. »Aber vielleicht nicht jetzt.«
Großmutter nickte. Anscheinend verstand sie Valeries ungereimte Antwort.
»Ich kann nur nicht glauben, dass er mich so einfach aufgegeben hat.«
Großmutter nippte an ihrem Tee. »Vielleicht steckt mehr dahinter.«
Valerie schüttelte den Kopf. »Vielleicht. Aber darüber möchte ich jetzt nicht nachdenken, nach Lucies Tod.«
»Wie sehr würde ich mir wünschen, du könntest dein Herz sprechen lassen«, sagte die alte Frau schließlich. Zorn flackerte in ihren Augen auf.
»Das ist eher unwahrscheinlich«, erwiderte Valerie, und ihre Miene verfinsterte sich. »Mutter geht es nur ums Geld, und Vater ist immer so betrunken, dass er die Hälfte gar nicht mitbekommt.«
Ein Lächeln umspielte Großmutters Lippen. »Du hast noch nie ein Blatt vor den Mund genommen, Valerie.«
Darauf schwiegen die beiden und sannen über die schweren Worte nach, die eben so leichthin ausgesprochen worden
waren. Die Glöckchen, die Großmutter draußen aufgehängt hatte, bimmelten im Wind.
»Als ich jung war«, begann Großmutter und milderte mit ihrer Stimme die Spannung in der Luft, »griff der Wolf immer ganze Familien an. Er lockte sie in die Wildnis hinaus.«
»Wie?« Valerie dachte an die Papierschnitzel, die sie in Lucies Hand gefunden hatte.
»Das weiß niemand.«
»Aber das Morden hat aufgehört, als ihr angefangen habt, Tiere zu opfern und ihn zu besänftigen«, sagte Valerie. Die Teetasse lag schwer und warm in ihren Händen.
»Ja, aber erst nach einer langen grausamen Zeit. Damals haben wir begonnen, die Glocken zu läuten. Immer vier Schläge. Jeden Monat.« Sie senkte die Augen, aus denen Tränen quollen. »Ich dachte, diese Zeit sei vorüber.«
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Valerie nicht verstanden, was die Kirchenglocken bedeuteten.
Wir waren zu viert oder fünft. Ich stand am Rand des Dorfplatzes und wartete auf Peter. Aber er kam nicht.
»Aufgepasst!«
Ich schaute nach oben. Peter war auf den Glockenturm gestiegen.
Ärgerlich, weil er vor mir auf die Idee gekommen war, kletterte ich an der Regenrinne der Kirche zu ihm hinauf. Ich wollte mir nicht von ihm helfen lassen. Wie ähnlich wir uns waren.
Wir waren noch so klein, dass wir unter die Glocke passten. Unsere eigene kleine Welt. Niemand, der einem Vorschriften machte. Im Schatten der Glocke sagte Peter: »Läute sie.«
»Einfach läuten?«
»Das Wolfstotengeläut. Vier Mal, vier Schläge.«
Peter brachte immer das Beste und das Schlimmste in mir zum Vorschein.
Ich ergriff den Klöppel und schlug ihn gegen die Seite der Glocke.
Bimm! Bimm! Bimm! Bimm!
Das Läuten stürzte das Dorf in ein Chaos. Mit versteinerten Mienen zwängten sich Väter an verzweifelten und verstörten Frauen vorbei, Mütter zählten ihre Kinder, als sie sie in die Schenke brachten.
Peter und ich sprangen bei dem Lärm unter der Glocke hervor. Jemand bemerkte uns.
»Die Tochter des Holzfällers!«
Ich sah, dass meine Mutter unten nach mir suchte, ganz bleich vor Schreck. Ich sah, wie aus dem Schrecken in ihrem Gesicht Enttäuschung und dann Wut wurde. Meine Eltern brachten mich von Peter weg, der mit dem Fuß in den Staub trat, als der Platz sich leerte und die Leute ihr Tagwerk wieder aufnahmen.
Heute war alles anders. Valerie ließ sich in Großmutters Schoß sinken. Es war Mitternacht geworden, ohne dass sie es gemerkt hatten.
Valerie war fast eingeschlummert, als sie ein Geräusch hörte. Sofort war sie hellwach.
Tropf, tropf, tropf.
Es war nur ein triefnasser Lappen, der an einem Haken hing. Valerie atmete auf. Fußbodendielen verschoben sich von selbst und knarrten. Großmutter sah, dass Valerie nicht einschlafen konnte. Die Nacht, das wusste sie, war die Zeit, in der düstere Gedanken wie Fäden an der Seele zerrten.
»Trink das, mein Schatz.«
»Meine Schwester ist tot …«, sagte Valerie und versuchte, sich damit abzufinden.
»Ich weiß, Liebes. Trink noch einen Schluck.«
Der Kessel war alt und der Tee schmeckte leicht nach Eisen.
Valerie konnte ihre trockenen Augen nicht mehr offen halten und schloss sie. Sie spürte das kalte Brennen ihrer feuchten Lider. Sie dachte an Lucies Tod, starrte ihn an wie etwas, was am anderen Ende eines Tunnels wartete.
»Der Wolf hat Lucie getötet
Weitere Kostenlose Bücher