- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
kam.
Marguerite hatte, um sich größer zu machen, einen rostigen Eimer umgedreht hingestellt, den sie nun, schreiend und mit den Armen fuchtelnd, erklomm. »Seid alle mal still!« Das behelfsmäßige Podest stand auf unebenem Boden und kippte langsam nach hinten. Henry sprang herbei und hielt es fest, bevor die Schankfrau herunterfiel.
An den beiden Enden der Tafel unterhielt man sich weiter, entweder weil man sie nicht gehört hatte oder nicht hören wollte. Marguerite erhob ihren Zinnkrug. »Auf den Vogt!«, rief sie und setzte, als sie merkte, dass sie alle zum Zuhören genötigt hatte, hinzu: »Für … äh … seine Tapferkeit und seinen Mut und seine Furchtlosigkeit.«
Valerie fragte sich, ob sie noch mehr sagen wollte. Anscheinend war sich Marguerite unschlüssig und hatte von Anfang an gar nicht gewusst, was sie sagen sollte.
»Und dafür … dass der Wolf jetzt so tot ist wie ein Sargnagel. Wie einer von den Nägeln, die unser kleiner Henry hier macht.«
Henry lächelte und versuchte, eine höfliche Miene aufzusetzen.
»Obwohl er ja gar nicht mehr so klein ist.« Sie zwinkerte ihm zu und wackelte zur Verdeutlichung mit den Hüften. Claude und Roxanne standen mit roten Köpfen etwas abseits und wahrten gnädiges Schweigen. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Mutter sie in Verlegenheit brachte. Valerie warf Roxanne einen mitfühlenden Blick zu.
Valerie hielt Abstand zur Menge. Kummer und Sorge erfüllten die Dorfbewohner und vermischten sich mit Wut, was ihnen das Gefühl gab, unbezwingbar zu sein, und sie dazu verleitete, über die Stränge zu schlagen. Nach Einbruch der Dunkelheit wurden sie immer übermütiger.
Ein Kerzenzieher saß auf dem Brunnenrand, strampelte mit den Beinen und spritzte die Musikanten nass. Der Mandolinenspieler spähte in das Schallloch seines Instruments.
Prudence kam, mit beiden Händen den Saum ihres grauen Rocks raffend, auf Valerie zugetanzt.»Ich bin so froh, dass du gekommen bist!«, schrie sie gegen den Lärm an und warf ihre braunen Haare von einer Seite auf die andere.
Ob sie damit meinte, fragte sich Valerie, dass sie ihr die Verlobung mit Henry verziehen hatte? Sie hoffte es und beschloss, der Freundin ihre Bedenken anzuvertrauen.
»Prudence, der Wolf ist noch nicht tot, oder?«, fragte sie, und ihre Stimme klang hohl in ihren Ohren, als sie diese Frage stellte, die allen auf der Zunge brannte, die aber keiner über die Lippen brachte.
Prudence hörte auf zu tanzen und ließ ihren Rock fallen.
»Wie kannst du so etwas sagen?« Sie runzelte die Stirn. »Du hast den Vogt doch gehört.«
»Aber Vater Solomon …«
»Die Männer werden schon wissen, was sie tun. Komm jetzt!«
Valerie entdeckte Claudes roten Haarschopf in der wogenden Menge. Sie hoffte, er konnte sich nach den Ereignissen am Tag zuvor ein wenig amüsieren.
Als er bemerkte, dass sie zu ihm hersah, legte er ein Tänzchen hin und schleuderte in den komischsten Winkeln die Beine in die Luft, um sie zum Lachen zu bringen. Sie rang sich für ihn ein Lächeln ab. Doch er unterschätzte seine Größe und geriet beim Tanzen in eine Gruppe griesgrämiger Frauen, die ihm nur sehr widerwillig Platz machten. Er bedankte sich mit einem sonnigen Lächeln, da kam William, ein Halbwüchsiger, angesaust und riss ihm den Hut vom Kopf.
»Wer hat Angst vor dem großen, bösen Wolf?«, rief William mit gespielter Unschuld.
»Lass das!«, schrie Valerie, doch der Junge war schon zu weit in die andere Richtung gelaufen.
Claude jagte ihm nach und verfolgte ihn um den Brunnen herum, bis er im Schlamm ausrutschte. Roxanne, die ihren Bruder nie lange aus den Augen ließ, eilte zu ihm und tröstete ihn. Dabei blickte sie schicksalsergeben zu Valerie und zuckte mit den Schultern.
Wem wollen sie etwas vormachen?, fragte sich Valerie. Bei der Wolfspuppe warfen ein paar Schwachköpfe ramponierte Möbel ins Freudenfeuer. Die Menge jubelte, als jemand das Vollmondsymbol vom Wolfsaltar in die Höhe hob und in die Flammen schleuderte.
Sie sah, wie Henry Lazar um den Platz herum in ihre Richtung kam. Sie dachte an den Trost, den sie heute bei ihm gefunden hatte, und verspürte nicht den Drang, ihm aus dem Weg zu gehen. Sie fühlte sich durch das Band der Trauer mit ihm verbunden.
»Henry«, grüßte sie ihn.
»Ich finde das alles sehr unpassend«, sagte er. »Wir haben sie doch gerade erst bestattet.«
Valerie blickte in die lärmende Menge und entdeckte mit Schrecken, dass Rose mit Peter tanzte und sich verführerisch
Weitere Kostenlose Bücher