- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
und tauchten die Köpfe unter Wasser. Wenn ich an der Reihe war, schwenkte ich mein Haare hin und her, vor und zurück, vor und zurück, sodass ich mich wie eine Meerjungfrau fühlte.
Diese Zeit war nun vorbei. Valerie befürchtete, ihre Seele könnte das Bild ihrer Schwester aus ihrem Gedächtnis verbannen, einfach nur, um die Situation für sie erträglicher zu machen. Erinnerungen verblassten irgendwann. Sie hatte schon so viele Erinnerungen, dass sie am liebsten aufhören würde, neue zu sammeln. Sie hatte schon so viele Erfahrungen, die es zu verstehen galt, und jeden Augenblick kamen neue hinzu.
Jetzt sah sie sich an, was geblieben war.
Ihr Vater kümmerte sich um seine Frau, brachte ihr heiße, nasse Tücher, damit sie sich das Gesicht abtupfen konnte. War das Zärtlichkeit?, fragte sich Valerie. Oder nur Theater, das er Großmutter vorspielte? Oder hatte Lucie recht gehabt? War das Liebe?
Valerie sah, dass Cesaires Augen auf Suzette liegender Gestalt ruhten. Und sie fragte sich, ob er sie wirklich noch sah. Nach achtzehn Ehejahren schien Cesaire nicht mehr zu bemerken, wie sanft sie mit ihren Töchtern umging oder wie sie sich in den Sommermonaten das sonnengebleichte Haar kämmte. War das die Ehe? Die Unfähigkeit, den anderen zu sehen, uns selber zu sehen, weil wir zu dicht beieinanderstehen? Würde sie mit Henry so ein Leben haben? Mit Peter?
Valerie wusste, dass ihre Eltern dieselben Schicksalsschläge erlebt hatten, doch sie hatten sie nicht zusammen erlebt.
Sie hatten sie getrennt voneinander durchlitten, zur selben Zeit.
Suzette, die möglicherweise spürte, was in Valeries Kopf vorging, machte eine ausholende Handbewegung und stieß gegen eine Zinnschale auf dem Nachttisch, die scheppernd zu Boden fiel. Als Valerie sich danach bückte, stöhnte ihre Mutter wieder.
In Erinnerung an Solomons Worte ging Valerie noch einmal die Ereignisse der Nacht durch. Hatte sie den Wolf gesehen, als ihr das Gesicht aufgeschlitzt worden war? Wo war ihre Mutter gewesen?
Ist meine Mutter der Wolf? Valerie konnte den Gedanken nicht ertragen, und als Großmutter sie sanft in Richtung ihrer Mutter schob, ging sie ohne Zögern zu ihr.
Kapitel 20
S chwere Stiefelschritte kamen die Leiter herauf, dann klopfte es an die Tür. Sie waren also, wie sie es angekündigt hatten, gekommen, um ihr Haus auf den Kopf zu stellen, um sie auf Herz und Nieren zu prüfen. Die Inquisitoren würden in ihrem Leben herumschnüffeln und ihre Geheimnisse ans Licht zerren.
Was haben wir zu verbergen?, fragte sich Valerie.
Poch! Poch! Poch! Das Klopfen wurde nachdrücklicher .
Valerie ließ die Kette eingehängt, als sie in der Erwartung, den Hauptmann oder Solomon selbst zu erblicken, die Tür einen Spaltbreit öffnete.
Stattdessen blickte sie in ein Paar glühende Augen, die sie eindringlich ansahen … die ihr Angst machten. Wie die Augen, die sie in der dunklen Gasse gesehen hatte.
»Peter?«
»Valerie, mach die Tür auf.«
Valerie zögerte. Eine innere Stimme riet ihr davon ab. Er drückte gegen die Tür, und sie knackte unter dem Druck, aber die Kette hielt.
»Mach auf!«
Warum war er so ungestüm?
»Du hättest nicht herkommen dürfen«, hörte sie sich sagen.
»Wir sind alle in Gefahr«, zischte Peter. » Wir müssen von hier fort.«
Seine Pupillen waren nur stecknadelkopfklein, sie glommen, als würde ein Feuer in ihnen brennen. Sie dachte an den Jungen, der er einmal gewesen war, und sie musste sich eingestehen, dass er dieser Junge nicht mehr war.
»Hol deine Sachen. Schnell. Geh mit mir fort.«
Valerie dachte an den Kornspeicher, an seinen Atem auf ihrer Haut, an ihr Gefühl, dass er sie verschlingen wollte.
Geh mit mir fort, sonst töte ich alle, die du liebst.
Das hatte er nicht gesagt – oder? Nein, das war der Wolf gewesen.
Aber da war er, starrte sie mit seinen eindringlichen, gefährlichen Augen an. Drückte gegen die Tür. Zerrte an ihrem Herzen. Versuchte, sie fortzulocken.
Sie trat zurück, so wie sie von einem Wagen zurücktreten würde, der in vollem Tempo vorbeiraste.
»Valerie, wir haben keine Zeit.«
Zwei Tage war er erst hier, und doch hatte sich viel verändert … seit sie beschlossen hatte, mit ihm zu gehen, seit sie begonnen hatte, ihm zu vertrauen. Ihre Schwester war ermordet worden. Ihr Dorf war verwüstet, ihre Mutter angegriffen worden.
Seit der Wolf da war … Seit Peter da war.
»Beeil dich, Valerie.«
Sie schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können,
Weitere Kostenlose Bücher