- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
was er gewesen sein mochte, längst aus dieser Welt gegangen war und nichts mehr von ihm auf dem hart gefrorenen Boden lag.
Solomon bemerkte, dass der Hauptmann sich über den Leichnam seines Bruders gebeugt hatte und ein Bein im Arm hielt, als wäre es ein Säugling. Von der Wunde aus rankten sich roten Schlieren nach allen Seiten. Der Körper sah aus, als wäre er vollgepackt, als wären die Muskeln unter der Haut zum Zerreißen gespannt.
Solomon ging zu ihnen. »Ein gebissener Mann«, sagte er kalt wie Marmor zum Hauptmann, »ist ein verfluchter Mann.«
Darauf zückte er sein Schwert und stieß es dem Bruder in die Brust. Der Hauptmann schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, war sein Blick härter geworden. Er ließ das Bein des Bruders los und drehte sich weg.
Solomon wandte sich ungerührt an die Menge. »Bewohner von Daggorhorn«, rief er mit ungebrochener Stimme, »er wird Zeit, dass wir ernst machen.«
Sein gebieterischer Ton gefiel den Leuten. Sie wollten, dass man ihnen einen Plan vorgab. Was er soeben getan hatte,
hatte sie beeindruckt: Der Bruder des Hauptmanns war ein Fremder und im Tod war er für sie zu einer Bedrohung geworden. Solomon hatte rasch und ohne falsche Gefühlsduselei das Notwendige getan.
»Es wird kein Fest mehr geben« – Solomon bückte sich und klaubte eine Schweinsmaske aus dem Schnee –, »bis der Werwolf in seiner menschlichen Gestalt gefunden und vernichtet ist. Und dabei werden wir keine Mittel scheuen.«
Solomon ließ die Maske wieder fallen. Seine Männer scharten sich um ihn. Diesmal versteckten sie ihre Waffen nicht.
»Es könnte jeder von euch sein. Aus diesem Grund werden wir überall nachsehen. Verdächtige Anzeichen sind eine abgeschiedene Lebensweise, Hexerei, schwarze Künste, sonderbare Gerüche … Wir werden eure Häuser durchsuchen. Eure Geheimnisse lüften. Wer unschuldig ist, hat nichts zu befürchten.Aber wer schuldig ist, und das schwöre ich beim Leben meiner Kinder, wird vernichtet werden.«
Solomon sah, wie die Dorfbewohner seine Soldaten und ihre Waffen musterten.
»Meine Frau ist gestorben. Eure Väter, eure Söhne, eure Töchter sind gestorben. Sorgen wir dafür, dass ein paar von uns übrig bleiben, um ihrer zu gedenken«, sagte er und schritt durch die herumliegenden Trümmer der letzten Nacht davon.
Ein Murmeln ging durch die Menge, und überall wurde entschieden genickt, während die Dorfbewohner ihre Nachbarn, Freunde, Ehemänner, Ehefrauen und Kinder ansahen.
Valerie verspürte ein seltsames Verlangen, etwas zu sagen, konnte sich aber nicht dazu überwinden. Der Eifer, mit dem
ihre Nachbarn dem neuen Herrn gehorchten, stimmte sie bedenklich. Ihr Magen knurrte laut, und ihr fiel auf, dass sie noch gar nichts gegessen hatte. Sie duckte sich hinter die Menge und lief nach Hause, froh, dass sie einen Grund hatte, nicht länger zuhören zu müssen.
Ihr Vater und ihre Großmutter waren da, aber sie hatte nur Augen für ihre Mutter. Suzette sah klein und schmal aus, ihre Haut hing schlaff herab, als passe sie nicht mehr, als hätte sie sich ein Gesicht gekauft, das eine Nummer zu klein war. Brust und Hals glänzten vor Schweiß, das wellige Haar klebte ihr am Schädel. Sie lag auf dem Bett und wirkte winzig unter der Steppdecke, die Großmutters Mutter gefertigt hatte.
Der Wolf hatte Suzette das Gesicht aufgeschlitzt.
Das Blut auf ihrer Wange war zu einer dicken Kruste getrocknet, und es war unmöglich zu erkennen, wie schwer sie verletzt war.
Cesaire schaute auf, als Valerie eintrat. Er zog sie an sich. Dann nahm Großmutter Valerie bei der Hand, und Cesaire kümmerte sich um das Wasser, das auf dem Herd kochte. Während Valerie ihrem Vater dabei zusah, reiste sie in Gedanken in eine andere Zeit.
Früher wussten wir immer, dass Badetag war, wenn wir vier Töpfe mit Wasser auf dem Herd stehen sahen. Irgendwann kam meine Mutter herein, zog sich das Kleid über den Kopf, löste ihr Haar. Ihr Körper war schön, das begriff ich schon als Mädchen. Er strahlte, als hätte sie etwas Magisches unter der Haut. Sie setzte uns beide immer zuerst in den Zuber, indem sie uns unter den Achseln hochhob und sanft ins warme Wasser gleiten ließ. Dann rutschte sie selber herein und schob die Beine an uns vorbei, ganz vorsichtig, wobei meine Schwester immer direkt bei ihr saß, und
dahinter erst ich. Wenn ich mit Lucie und meiner Mutter zusammen war, kam ich mir eigentlich immer etwas abseits vor.
Wir Mädchen lehnten uns abwechselnd zurück
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