- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
Küchentisch und tastete mit der Hand hinter ihrem Rücken heimlich umher …
»So klar und deutlich, wie ich dich verstehe.« Valerie bemerkte einen zögernden, herausfordernden Ton in der eigenen Stimme.
Großmutters Hand fand, was sie gesucht hatte – eine Schere.
Und Valeries Hand umklammerte das Hirschhornmesser in ihrem Ärmel.
Sie standen sich Auge in Auge gegenüber und ein beklemmendes Schweigen legte sich über sie und schnürte ihnen die Kehle zu.
»Wem hast du davon erzählt?« Großmutters Mundwinkel zuckten.
Das Unausgesprochene ließ ihre Körper verkrampfen.
»Niemand weiß davon außer Roxanne. Sie wird niemandem davon erzählen. Sie wollte nicht mal mit mir darüber reden.«
»Der Wolf hat dich nicht getötet …«
Valerie hörte den Klang ihrer Stimme und plötzlich war sie sich ihrer Sache sicher. Es war nicht ihre Mutter, es war auch nicht Peter. Sie war es. Valerie fühlte es. Der Wolf war hier, in diesem Raum, im Körper ihrer Großmutter.
»… obwohl er es leicht hätte tun können«, rief ihr Großmutter in einem ruhigen Ton ins Gedächtnis.
»Ich glaube, er will, dass ich am Leben bleibe.«
Valerie hatte das Gefühl, dass die Luft aus dem Raum entwich. Sie glaubte zu ersticken und ging vorsichtig zum Fenster, um die Läden zu öffnen.
Das violette Licht des Morgens strömte ins Zimmer, und der Wind wehte den vertrauten Kieferngeruch herein, der alles veränderte. Beide Frauen erkannten, wie sehr sie sich getäuscht hatten. Großmutters ließ hinter ihrem Rücken die Schere los und wischte sich die Hand an der Schürze ab, als wollte sie sich so von ihrer Schuld reinwaschen.Auch Valerie schämte sich dafür, dass sie an dieser Frau, die sie schon ein Leben lang liebte, gezweifelt hatte. Beide atmeten auf.
»Aber warum ausgerechnet du, Valerie?«
»Ich weiß es nicht. Aber er hat gesagt, dass er alle, die ich liebe, töten wird, wenn ich nicht mit ihm gehe. Lucie hat er schon getötet …«
Ihr Nacken schmerzte vor Anspannung, und sie beschloss, den Kopf auf Großmutters Schulter zu legen. Sie ließ ihn dort ruhen, spürte das Gewicht ihres Kopfes. Etwas knackte in ihrer Wirbelsäule und rückte wieder an seinen Platz. Valerie spürte, dass Großmutter nach ihrer Hand fasste. Was war nur in sie gefahren, alle um sie herum zu verdächtigen? Sie musste den Verstand verloren haben.
Großmutter löste sich von ihr, zutiefst besorgt. Sie brauchte jetzt eine Beschäftigung und beschloss, Tee zu machen. Der Kessel zitterte in ihren Händen, als sie ihn vom Herd nahm.
»Er kommt mich holen«, sagte Valerie flüsternd. »Noch bevor der Mond schwindet. Was mit Lucie geschah, war meine Schuld. Der Wolf ist wegen mir gekommen …«
Großmutter schwieg, und Valerie begriff, dass Großmutter nicht widersprechen konnte.
Valerie musste an die frische Luft. Als sie aus dem Haus trat, wunderte sie sich darüber, wie einfach es war fortzugehen, wie ein Einsiedlerkrebs, der aus seinem zu klein gewordenen Schneckengehäuse schlüpft und keine Anstrengung mehr spürt, weil das Gewicht des Zurückgelassenen nur noch ein Geist der Vergangenheit ist. Die Kälte war wie ein Schlag ins Gesicht und weckte sie aus ihrer Benommenheit. Valerie ging rasch, aber ohne Ziel.
Auf dem Weg zum Brunnen begegnete sie Roxanne und
ihrer Mutter, die vom Wasserholen kamen. Hinter ihnen durchsuchten Soldaten gerade ein Haus und warfen die spärlichen Habseligkeiten der Familie auf die Seite.
»Ist Claude nach Hause gekommen?«, fragte sie.
Roxanne hastete, in jeder Hand einen Eimer, vorüber, als hätte sie Valerie weder gesehen noch gehört.
»Niemand hat ihn gesehen«, antwortete Marguerite, bevor sie weiterging.
Valerie war gekränkt. Roxanne wusste, dass sie Claude gernhatte – sie war außer ihr der einzige Mensch, der sich um ihn kümmerte. Warum hatte Roxanne ihre Besorgnis einfach so abgetan? Valerie durchforstete ihr Gedächtnis, während sie in die leere Tiefe des Brunnens spähte. Ob sich Roxanne vielleicht dafür schämte, dass sie sich vor ihr so ängstlich benommen hatte?
Oder lag es daran, dass der Wolf nicht sie ausgewählt hatte? Tief in ihr drin spürte Valerie eine schändliche Genugtuung. Vielleicht war Roxanne eifersüchtig. Vielleicht waren alle Mädchen eifersüchtig wegen ihrer Verlobung.
Der Hund eines Holzfällers kam auf Valerie zugelaufen, und sie ging in die Knie und streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln. Genau das brauchte sie jetzt mehr als alles andere auf der Welt.
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