- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
jemand aus dem Dorf, der dich haben will, Valerie«, sagte er mit der aufgesetzten Stimme, die er für das Publikum reservierte. »Weißt du, wer es ist? Ich an deiner Stelle würde scharf darüber nachdenken.«
Valerie schwieg natürlich. Sie wusste nichts mit Gewissheit und konnte nicht sprechen. Sie blickte wieder zu Peter, um in seinem Gesicht zu lesen. Doch er war nicht mehr da.
Solomon war ein scharfer Beobachter. Er kannte Valerie inzwischen gut genug und wusste, dass er nichts mehr aus ihr herausbekommen würde.
»Er will sie, nicht euch«, rief er, es mit einer anderen Taktik probierend, den Dorfbewohnern zu. »Rettet euch. Es ist ganz einfach. Wir geben dem Wolf, was er will.«
Henry fuhr in die Höhe. Sein Freund schaute bekümmert zu ihm auf. Henrys rechthaberisches Festhalten an seinen Prinzipien war den Menschen in seiner Umgebung von jeher ein Dorn im Auge, denn ohne diese Eigenschaft wäre er lustiger und unterhaltsamer gewesen. Er stibitzte nie
die Unterwäsche einer alten Frau von der Wäscheleine und rannte damit davon. Und er tauschte beim Schach nie einen Bauern gegen einen Läufer. Aber diesmal brachte er sich selbst in Gefahr.
»Wir können sie nicht dem Wolf geben. Das wäre ein Menschenopfer.«
»Wir haben alle Opfer gebracht«, rief Madame Lazar auf ihre unverbindliche Art dazwischen, als ob sie nur eine Feststellung machte.
Henry ließ den Blick durch den Raum schweifen und suchte Unterstützung, wo keine war. Die Dorfbewohner waren sich nie so einig wie dann, wenn sie sich gegen jemanden verbündeten.
Verzweifelt drehte sich Henry um und blickte zu der Stelle, wo er Peter hatte stehen sehen. Er war fort, sein Platz war leer.
Valerie war gerührt über Henrys Bemühungen, obwohl sie spürte, dass es ihm dabei weniger um sie ging als vielmehr darum, das Richtige zu tun. Aber zumindest widersetzte er sich Vater Solomon. Nicht einmal ihre Familie hatte das getan.
Ihre Eltern und ihre Großmutter saßen beieinander und schwiegen aus Angst. Sie wollten sich jetzt nicht opfern.Was für einen Sinn hätte es, zusammen eingesperrt zu werden? Er musste einen anderen Weg geben.
Ihre Mutter sah immer noch sehr schlecht aus, und Valerie war sich nicht einmal sicher, ob sie ganz bei Sinnen war. Cesaire machte einen wütenden, aber auch hilflosen Eindruck, als hätte er endlich begriffen, wie ohnmächtig er war. Und Großmutter – nun ja,Valerie hoffte, dass sie einen Plan hatte, aber sie wusste auch, dass die alte Frau ihre Leben aufs
Spiel setzen würde, wenn sie jetzt den Mund aufmachte. Sie war froh, dass Roxanne wenigstens Großmutter nicht mit hineingezogen hatte.
Solomon, immer ein Mann der Tat, nutzte die Gelegenheit, den Soldaten zuzunicken, die daraufhin mit stampfenden Schritten zu Valerie herüberkamen, sie losbanden und abführten. Die Verhandlung war beendet.
Die Dorfbewohner hatten es eilig, aus diesem Raum zu kommen, dem nach ihrer Entscheidung, ihrem Urteil – wonach sie es mehr verdient hatten zu leben als Valerie – etwas Bitteres anhaftete. Und so strömten sie wortlos hinaus und verkniffen sich jede Bemerkung, bis sie im Freien waren. Niemand wagte, Vater Solomon anzusprechen, niemand wagte auch nur, ihn anzusehen. Niemand wollte auffallen.
Nur Pater Auguste richtete das Wort an Vater Solomon. »Ich dachte, Sie sind gekommen, um den Wolf zu töten, und nicht, um ihn zu beschwichtigen.«
Solomon sah ihn an, als stelle er seine Geduld auf eine harte Probe. »Ich habe nicht die Absicht, ihn zu beschwichtigen«, sagte er in verschwörerischem Ton. »Das Mädchen ist nur der Köder für unsere Falle heute Nacht.«
»Natürlich, aber natürlich«, murmelte Pater Auguste und trat zurück. Sein Vertrauen war wiederhergestellt und er selbst bereit, seinen Helden seine Heldenarbeit tun zu lassen. Daran hatte er überhaupt nicht gedacht! In dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, wandte er sich ab, zufrieden, dass alles seine Ordnung hatte. Valerie sah ihm an, dass er keinerlei Schuld auf sich nehmen würde. Sie war ganz auf sich allein gestellt.
Die Dorfbewohner standen direkt vor dem Eingang der Schenke in kleinen Gruppen beisammen, und als Cesaire, Suzette und Großmutter nach der Gerichtssitzung heraustraten, verstummte das allgemeine Gemurmel, insbesondere beim Anblick der Großmutter, die nicht oft zu besonderen Ereignissen ins Dorf kam.
Nur Madame Lazar, die sich gerade mit Rose und einigen Klatschmäulern unterhielt, sprach laut weiter. »… ihre Großmutter
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