- Red Riding Hood - Unter dem Wolfsmond
lebt ganz allein im Wald.«
Es war nicht das erste Mal, dass ihr dergleichen zu Ohren kam, doch aus irgendeinem Grund blieb Großmutter stehen und hörte zu.
»Das erste Opfer war ihre Schwester«, fuhr Madame Lazar fort. »Das zweite war der Vater ihres Verlobten. Und vergessen wir nicht die arme Mutter, die für ihr Leben gezeichnet ist. Also wenn das Mädchen keine Hexe ist, was ist dann die Erklärung?«
Cesaire sah, dass Großmutter von Madame Lazars Worten in den Bann gezogen wurde.Anscheinend fanden sie bei ihr einen gewissen Widerhall.
»Hör gar nicht hin.«
»Sie hat nicht unrecht«, sinnierte Großmutter. »Valerie spielt bei alldem eine zentrale Rolle.«
Cesaire blickte besorgt, nickte aber nur und ging mit Suzette, die wieder ins Bett musste, weiter die Straße hinunter. Großmutter verharrte, um auch den Rest noch zu hören.
»Ich habe versucht, Henry seine Gefühle für sie auszureden«, fuhr Madame Lazar fort. »Aber es ist hoffnungslos. Er hat völlig denVerstand verloren. Also wenn da keine Hexerei dahintersteckt …« Madame Lazar verstummte und ihre Zuhörerinnen nickten beifällig.
Niemand sprach Henry an, als er aus der Schenke stürmte, um Peter zur Rede zu stellen, der auf der anderen Straßenseite in einer dunklen Ecke lehnte und die Menge beobachtete. Peter richtete sich kampfbereit auf.
»Was war das denn eben?«, fragte Henry mit einer Stimme, die schriller klang, als ihm lieb war.
»Pst!« Peters Augen wanderten über den Platz.
»Ich dachte, du hast sie gern«, sagte Henry, diesmal bemüht, seine Stimme zu zügeln.
Peter rieb sich die Augen und öffnete sie dann wieder in der Hoffnung, Henry wäre inzwischen verschwunden. Er war es nicht.
»Das habe ich auch.« Peter seufzte, als er merkte, dass er eine ehrliche Antwort geben musste, weil sich Henry mit weniger nicht zufrieden geben würde. »Aber …« Er nickte in Richtung Schenke, wo der Hauptmann stand. »… ich für meinen Teil versuche, es klug anzugehen.«
Henry spähte kurz hinüber und sah, dass selbst dieser flüchtige Blick der Aufmerksamkeit des Hauptmanns nicht entgangen war.
»Du willst sie befreien.« Endlich verstand Henry.
Peter machte sich nicht die Mühe zu antworten.
Henry musterte seinen Rivalen. Er spürte, dass er ihm vertrauen konnte, fand aber, dass er es lieber nicht tun sollte. Und doch war Henry nicht so stolz, dass er das Mädchen, das er liebte, deswegen opfern würde. Er beobachtete, wie ein Soldat Valerie aus der Schenke schleppte und woanders hinbrachte, wo sie eingesperrt wurde. Dort, wo die Fesseln gesessen hatten, war ihre Haut rot und wund
gescheuert. Der Anblick erleichterte ihm die Entscheidung.
»Ich werde dir helfen.«
»So verzweifelt bin ich nicht«, erwiderte Peter kühl. Sein Stolz war anscheinend noch ungebrochen.
»Ach tatsächlich? Und wie sieht dein Plan aus?«
Peter trat von einem Fuß auf den anderen.
»Du hast gar keinen, stimmt’s? Hör mal, die Schmiede gehört jetzt mir. Ich habe Werkzeug und ich kann damit umgehen. Du brauchst mich.« Henry wollte die Genugtuung, dass Peter einlenkte. »Gib es zu.«
Die Sache gefiel Peter nicht. Aber noch weniger gefiel ihm die Vorstellung, Valerie vom Wolf holen zu lassen. Er wusste, dass es mit Henrys Unterstützung leichter sein würde.
»Also gut.« Peters Gesicht hellte sich kaum merklich auf. Er musste Henry nicht unbedingt vertrauen. Er musste nur darauf vertrauen, dass Henrys Liebe zu Valerie stark genug war.
Was aber, wenn sie zu stark war? Übernatürlich stark?
»Aber wenn du der Wolf bist, haue ich dir den Kopf ab und piss dir in den Hals.«
»Und ich werde dasselbe mit dir machen. Und mit Freuden. «
»In Ordnung.«
Die beiden Jungen sahen einander forschend an, verwundert über den Waffenstillstand, den sie erzielt hatten, so unbehaglich ihnen dabei auch zumute sein mochte.
Kapitel 23
R oxanne fühlte sich seltsam leer, wie von innen heraus verdorben. Sie trat auf den Hauptmann zu.
»Wo ist mein Bruder? Vater Solomon hat mir versichert, dass er freigelassen wird.« Sie schniefte in der kalten Luft.
Etwas Unmerkliches huschte über das Gesicht des Hauptmanns.
»Freigelassen?« Er nickte geistesabwesend. »Ja, ich glaube, das wurde er.«
Er drehte sich um und ging in die Schenke zurück. Roxanne vermutete, dass sie ihm folgen sollte. Sie eilte hinter ihm her, während er leichtfüßig drei Stufen auf einmal nahm. Er führte sie durch die Gaststube und durch die Hintertür auf den Hof, auf dem eine
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