Rede, dass ich dich sehe
kann man wohl dieses im Text nicht immer stimmige Bild deuten. Aber ich spreche auch aus der Generation heraus, der er wie ich angehören und der in unserer Lebenszeit, der jünge
ren Geschichte dieses Landes, das noch vor kurzem zwei Länder war, kein harmloser, von Brüchen, Widersprüchen, Belastungen, Fehlleistungen, Versagen freier Lebenslauf zugewiesen ist. Nach einem umfangreichen Erzählwerk, das diese Motive immer wieder aufnimmt, mal schwächer, mal stärker, oft in phantastischer Form, hat Günter Grass sich, spät, entschlossen, sie direkt und auf seine Person bezogen anzugehen: ein Prozeß – passendes Wort – der Selbstfindung, mit dem Risiko, verlorenzugehen in dieser Zeit, die nicht enden will. Ein deutsches Buch.
Lesern ist zu raten, sich nicht, was möglich, sogar naheliegend ist, von Episode zu Episode, von einem erzählerischen Kabinettstück zum anderen tragen zu lassen – gekrönt etwa durch das Epos vom bessarabischen Koch im Gefangenenlager –, vielmehr auf die unscheinbareren Texte in diesem Buch zu achten, auf die Zwischenstücke, die Scharniere zwischen den Erzählpartien: Nämlich, wenn den Autor die Unzuverlässigkeit seines Gedächtnisses irritiert, das ja parteiisch ist bis zur skrupellosen Tatsachenverdrehung, zu schweigen von seinem Hang zum Vergessen; Ausfälle noch und noch, die Grass nicht überbrückt, sondern deutlich macht, er bietet Varianten an, fern von Gewißheiten. Oder wenn er, der Autor, große Schwierigkeiten bekommt, zu seiner früheren Inkarnation einfach »ich« zu sagen, und sich damit behilft, diesen Fremden, der er einmal gewesen sein soll, »er« zu nennen: eine Lektion, die jeder lernen muß, darüber, wie sicher wir unserer oft mit Stolz gerühmten Identität sein können.
Wie oft in seinem Leben wird man ein anderer? »Das mir in frühen Jahren entschwundene Ich muß ein leeres Gefäß gewesen sein«, sagt der betroffene Erzähler, und, beim Betrachten eines frühen Paßfotos: »Der mir fremde Finsterling …« Und immer wieder die Warnung vor der Täuschung über die »Wahrheit« von Erinnerung: »Die Erinnerung fußt auf Erinnerungen, die wiederum um Erinnerungen bemüht sind.« Verschachtelungen, raffiniert angelegt, die nicht leicht zu durchschauen
sind. Es sei denn, man geht ernsthaft in die Tiefe und will – oder kann – sich nicht mehr mit der Oberfläche der Erscheinungen zufriedengeben.
Ich finde in diesem Buch Stellen, Offenheiten, Bekenntnisse, Nachforschungen, die ich nicht einzeln herauspicken will, die tiefer in das Wesen, den Charakter des Autors eindringen als seine Bücher bisher und die eigentlich schwerer zu offenbaren gewesen sein müssen als jene Mitteilung von seiner mehrmonatigen unfreiwilligen Zugehörigkeit zur Waffen- SS als siebzehnjähriger Soldat.
Ich will diese Tatsache seines Lebens nicht leichter nehmen, als er selbst sie nimmt, dem »noch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist«. Und der eben deshalb wohl – nur diesen einen Satz möchte ich dazu sagen – es bis jetzt nicht über sich gebracht hat, darüber zu sprechen. Dies kann man ihm vorwerfen, und man hat es ja, wie ich glaube, im Übermaß getan; sicherlich von Schreibern, das will ich doch voraussetzen, die selbst immer frank und frei mit den Fehlern und Peinlichkeiten ihres Lebens umgehen.
Daß viele von ihnen, besonders die Jüngeren, vielleicht nicht in solch tiefgehende Gewissenskonflikte geraten wie wir und viele unserer Generationsgenossen, liegt ja daran, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse sich verändert haben. Da möchte ich doch fragen, ob nicht auch die beharrliche Kritik und das andauernde Engagement eines Günter Grass, seine Zivilcourage über die Jahrzehnte hin zu dieser Veränderung ihr Scherflein beigetragen haben, die ihm jetzt, unter dem Schlagwort »moralische Instanz«, höhnisch angekreidet wurden.
Ich hätte ihm allerdings – die meiste Zeit als Beobachterin von außen – bei mancher Gelegenheit mehr moralischen Beistand gewünscht, den er selbst, auch das scheint vergessen, so manchem Kollegen, der in Bedrängnis geriet, geleistet hat, übrigens auch mir. Unerwähnt auch, daß ein einzelner oder eine Minderheit, die sich gegen Fehlentwicklungen im eigenen Land
stemmen, nie ungeschoren davonkommen; immer gibt es viele, oft eine Mehrheit, die sehr laut und oft ungerecht und sehr schmerzhaft gegen sie vorgehen, Grass hat es reichlich erfahren.
Wer das Buch ganz und
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