Rede, dass ich dich sehe
Erinnerung nicht zulassen konnte, unterdrücken mußte, weil sie einer wahrhaftigen Selbsterkenntnis nicht gewachsen gewesen wäre. Wie Nietzsche es formuliert hat: »Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.«
Gibt nach und versagt sich dem Ansturm von Erinnerung an Massenverbrechen. Heute aber, scheint mir, drückt sich in dem Hang der Öffentlichkeit, Vergessen nicht zu glauben und nicht zu gestatten, jedes Geheimnis aufdecken zu wollen, auch eine Nichtachtung der Erkenntnis aus, daß wir über unsere Erinnerungen nicht frei verfügen und daß wir uns Vergessen nicht befehlen, es aber auch nicht bewußt verhindern können. Nicht jedes Vergessen ist im Freudschen Sinn ein Verdrängen, nicht jede Selbstentblößung dient der Wahrheitsfindung, nicht jeder Stein sollte umgedreht werden: Aber diese schlichten Erkenntnisse laufen dem Bedürfnis der Massenmedien nach Sensationen strikt zuwider, und wir erleben, wie die Überschwemmung durch Enthüllungen intimster Geheimnisse von wehrlosen Opfern den Vorgang, den Sie zum Motto Ihres Kongresses gemacht haben, drastisch behindert.
Aber nach welchen Regeln oder Gesetzen findet denn dieser rätselhafte Vorgang »Erinnern« in unserem Gehirn, und noch dazu unterschiedlich in verschiedenen Gehirnen verschiedener Individuen, statt? Dazu kann die Neurobiologie natürlich keine Auskünfte geben: Sie kann feststellen, daß gedacht, daß erinnert wird, in zunehmendem Maße auch: wo, in welchen Gehirnarealen, aber über den Inhalt dieser Erinnerungen, dieser Gedanken und auch über die Gründe für das Löschen von Erlebnissen und Lerninhalten, über das Vergessen, kann sie nichts wissen. Da, am Schnittpunkt von größter Allgemeinheit und äußerster Subjektivität, setzt, glaube ich, die Psychoanalyse an – gerade auch dann, wenn Gewalt in ihren verschiedenen
Formen Erinnerung ausgelöscht hat und diese Leerstellen dem von ihnen Betroffenen zur Qual werden und ihn krank machen. Daß die Kunst – Literatur und Film – sich dieser Themen annimmt, ist kein Wunder: Da verliert ein Mann durch einen Unfall die Fähigkeit, ihm nahestehende Menschen zu erkennen, und sieht fortan in seiner fürsorglichen Schwester eine ihm untergeschobene Täuschung; da wird jemand in der Wüste gedächtnislos aufgefunden, und ein Neurologe implantiert ihm den Gedächtnisinhalt eines anderen. Da hat, in einem Film, ein Mann nach einer Schlägerei jede Erinnerung verloren, er weiß nicht, wer er ist, und baut sich in einer ihm vollkommen fremden Umgebung in äußerster Einfachheit ein neues Leben auf, findet eine neue Liebe, die Bestand hat, nachdem seine alte, »eigentliche« Identität ihn wieder eingeholt hat – das sind drei Beispiele, die mir in letzter Zeit begegnet sind. Daß sie mich, und ich glaube, viele Menschen, faszinieren, hängt eben damit zusammen, daß unsere Identität an die Masse unserer Erinnerungen geknüpft ist; manche meinen, die Erinnerung eines Menschen und seine Identität seien identisch. »Unsere Erinnerungen machen uns zu den Menschen, die wir sind« (Daniel Schacter). Einig ist man sich darüber: Ohne Erinnerung kein Bewußtsein. Gabriel García Márquez, der große südamerikanische Schriftsteller, meint: »Nicht, was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern, um davon zu erzählen.« Was uns nicht erzählt wird, worüber wir nicht sprechen, das erinnern wir nicht, oder es bleibt ein blasser Eindruck, der immer mehr schwindet, und die »Redekur«, die Freud entwickelt hat, ist ja eine Art, Erinnerung durch Erzählen heraufzuholen und sie für die Person, das Ich, wieder »verfügbar« zu machen – mit allen Vorbehalten gegenüber der Zuverlässigkeit unseres Gedächtnisses. Richard Powers schreibt in seinem Roman Das Echo der Erinnerung : »In gewisser Weise gleicht das menschliche Hirn einem geheimnisvollen Krimi: Wir erzählen uns selbst ständig die Geschichte vom Ich als unverrückbarer Einheit.«
Wenn ich eine persönliche Erfahrung hier einblenden darf: Als ich, vor Jahren, Kindheitsmuster , ein Erinnerungsbuch über meine Kindheit, schrieb und mir bei der Vorarbeit, beim Materialsammeln die Fragwürdigkeit der Erinnerungen deutlich wurde, auf die ich mich aber doch stützen mußte, half ich mir damit, daß ich Reflexionen über das Gedächtnis durch das Buch mitführte und so die Behauptung: So und nicht anders ist es gewesen,
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