Reflex
ließ das ›r‹ weg. Und ich wolle ihn dann gern etwas fragen, und er sagte: »Ach? Nur zu. Was Sie wollen.«
Jeremy sah erheblich besser aus, seine Haut war nicht mehr so grau und feucht wie am Sonntag. Wir halfen ihm auf den Rücksitz meines Autos und wickelten ihn in eine Wolldecke, die er entrüstet abschüttelte. Er sei kein Invalide, sondern ein durch und durch lebenstüchtiger Anwalt.
»Und übrigens, mein Onkel ist gestern bei mir gewesen«, sagte er. »Schlechte Nachrichten für Sie, fürchte ich. Die alte Mrs. Nore ist Montagnacht gestorben.«
»O nein«, sagte ich.
»Sie haben’s ja gewußt«, sagte Jeremy. »War nur eine Frage der Zeit.«
»Ja, aber …«
»Mein Onkel hat mir zwei Briefe für Sie mitgegeben. Sie sind irgendwo in meinem Koffer. Suchen Sie sie raus, bevor wir losfahren.«
Ich fischte sie heraus und las sie gleich auf dem Krankenhaus-Parkplatz.
Einer war ein Brief, der andere eine Kopie des Testaments.
Jeremy sagte: »Mein Onkel hat erzählt, man habe ihn dringend ins Pflegeheim gerufen, um ihr Testament aufzusetzen, und der Arzt hat dann meinem Onkel klargemacht, daß die Zeit drängte.«
»Wissen Sie, was drinsteht?« fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Mein Onkel hat nur gesagt, daß sie bis zur letzten Minute eine sture alte Frau war.«
Ich faltete die betippten Papierbögen auseinander.
Ich, Lavinia Nore, widerrufe hiermit im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte sämtliche vorherigen Testamente …
Es folgte eine Menge juristischer Quatsch und eine komplizierte Pensionsregelung für einen alten Koch und einen Gärtner, dann kamen die beiden letzten, recht einfachen Absätze:
›… Die Hälfte meines restlichen Vermögens an meinen Sohn James Nore …‹
›Die Hälfte meines restlichen Vermögens an meinen Enkel Philip Nore, zur freien Verfügung ohne Einschränkungen oder eiserne Absicherung.‹
»Was ist los?« sagte Clare. »Du siehst so finster drein.«
»Die alte Hexe … hat mich geschlagen.«
Ich öffnete den anderen Umschlag. Darin befand sich ein Brief in zittriger Handschrift, ohne Anrede und Schluß.
Er lautete:
Ich glaube, Du hast Amanda gefunden und hast es mir nicht erzählt, weil es mir keine Freude bereitet hätte. Ist sie Nonne?
Du kannst mit meinem Geld machen, was Du willst. Wenn es Dich zum Kotzen bringt, wie Du einmal gesagt hast … dann KOTZE .
Oder vermach es meinem Erbgut.
Scheußliche Rosen.
Ich reichte Jeremy und Clare das Testament und den Brief, und sie lasen beides. Wir saßen eine Weile nachdenklich da, und dann faltete Clare den Brief zusammen, steckte ihn in den Umschlag und gab ihn mir zurück.
»Was willst du machen?« sagte sie.
»Ich weiß es nicht. Dafür sorgen, daß Amanda nie Hunger leiden muß, schätze ich. Davon abgesehen …«
»Freuen Sie sich darüber«, sagte Jeremy. »Die alte Dame hat Sie geliebt.«
Ich horchte auf die Ironie in seiner Stimme und fragte mich, ob es stimmte. Liebe oder Haß. Liebe und Haß. Vielleicht hatte sie beides auf einmal empfunden, als sie das Testament gemacht hatte.
Wir fuhren von Swindon Richtung St. Albans und machten einen kurzen Abstecher, um Lance Kinships Abzüge abzuliefern.
»Tut mir leid«, sagte ich, »aber es wird nicht lange dauern.«
Es schien ihnen nichts auszumachen. Wir fanden das Haus ohne große Schwierigkeiten … typisch Kinship: auf georgianisch gemacht, große imposante Fassade, Torbogen mit Säulen, magere Auffahrt.
Ich nahm das Päckchen mit den Fotos aus dem Kofferraum und klingelte an der Haustür.
Lance öffnete persönlich, heute nicht in Gutsherrenkluft, sondern in weißen Jeans, Espadrilles und einem rotweißen Ringel-T-Shirt. Internationaler Regisseuraufzug, diagnostizierte ich. Es fehlte ihm nur das Megaphon.
»Kommen Sie rein«, sagte er. »Ich bezahl sie Ihnen gleich.«
»O.k. Kann aber nicht lange bleiben, weil meine Freunde warten.«
Er sah kurz zu meinem Wagen hinüber, wo die interessierten Gesichter von Clare und Jeremy durch die Scheibe zu sehen waren, und ging dann hinein. Ich folgte ihm. Er führte mich in ein großes Wohnzimmer mit einer riesigen Parkettfläche und zu vielem schwarz lackiertem Mobiliar. Chrom- und Glastische. Art-deco-Lampen.
Ich überreichte ihm das Päckchen mit den Bildern.
»Werfen Sie mal einen Blick drauf«, sagte ich, »ob sie auch in Ordnung sind.«
Er zuckte die Achseln. »Warum sollten Sie nicht in Ordnung sein?« Trotzdem öffnete er den Umschlag und zog den Inhalt heraus.
Das oberste
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