Reflex
Wider erwog, sagte er: »Mrs. Nore besteht darauf, jemandem, der nicht zu finden ist, ein Vermögen zu hinterlassen. Das ist … unbefriedigend.«
»Warum besteht sie darauf?«
»Keine Ahnung. Sie gibt meinem Großvater Anweisungen. Sie nimmt keinen Rat von ihm an. Er ist alt und hat die Nase voll von ihr, und mein Onkel desgleichen, und sie haben den ganzen Schlamassel mir aufgehalst.«
»Drei Detektive konnten Amanda nicht finden.«
»Sie wußten nicht, wo sie suchen sollten.«
»Ich weiß es auch nicht«, sagte ich.
Er sah mich prüfend an. »Das könnte sich ändern.«
»Nein.«
»Wissen Sie, wer Ihr Vater ist?« fragte er.
4
Ich drehte den Kopf zum Fenster und sah auf die kahlen und ruhigen Umrisse der Downs hinaus. Geraume Zeit herrschte Stille. Die Downs würden ewig weiterbestehen.
Ich sagte: »Ich möchte nicht in die Angelegenheiten einer Familie verstrickt werden, der ich mich nicht zugehörig fühle. Ich will mich nicht in ihren Fäden verfangen wie in einem Spinnennetz. Die alte Frau kann mich nicht einfach krallen, nur weil es ihr nach all den Jahren in den Kram paßt.«
Jeremy Folk sagte nichts darauf, und als er aufstand, lag wieder etwas von der üblichen Tölpelhaftigkeit in seinen Bewegungen, wenn auch nicht in seiner Stimme.
»Ich habe die Berichte dabei, die wir von den drei Detektivbüros bekommen haben«, sagte er. »Ich lasse sie Ihnen hier.«
»Nicht nötig.«
»Hat alles keinen Zweck«, sagte er. Er sah sich wieder im Zimmer um. »Mir ist durchaus klar, daß Sie sich aus allem heraushalten wollen. Aber ich fürchte, ich muß Ihnen so lange auf den Wecker fallen, bis Sie mitmachen.«
»Machen Sie Ihre Dreckarbeit alleine.«
Er lächelte. »Die Dreckarbeit wurde ja wohl vor dreißig Jahren gemacht. Bevor wir beide auf der Welt waren. Jetzt haben wir es nur mit dem Dreck zu tun, der mit der Flut wieder angespült wird.«
»Danke für die Blumen.«
Er zog einen großen dicken Umschlag aus der Tasche und legte ihn behutsam auf den Tisch. »Keine sehr langen Berichte. Wollen Sie nicht wenigstens einen Blick darauf werfen?«
Er erwartete keine Antwort, und er bekam auch keine. Er bewegte sich zögernd Richtung Tür, um anzudeuten, daß er gehen wollte. Ich ging mit ihm nach unten und begleitete ihn zu seinem Auto.
Beim Einsteigen hielt er verlegen inne und sagte: »Mrs. Nore stirbt übrigens wirklich bald. Sie hat Wirbelsäulenkrebs. Metastasen, wie es heißt. Nichts mehr zu machen. Sie kann noch sechs Wochen leben oder sechs Monate. Man weiß es nicht. Sie … äh … Sie dürfen also keine Zeit verlieren.«
Ich verbrachte den größten Teil des Tages zufrieden in der Dunkelkammer mit dem Entwickeln und Abziehen der Schwarzweißfotos von Mrs. Millace und ihren Problemen. Sie wurden so gestochen scharf, daß man sogar lesen konnte, was in den Zeitungen stand, die auf dem Boden lagen, und ich fragte mich nebenbei, wo eigentlich die Grenze lag zwischen Eitelkeit und schlichter Freude über eine optimal ausgeführte Arbeit. Vielleicht hatte ich die Silberbirken aus Eitelkeit gerahmt und aufgehängt … aber abgesehen von der Bildkomposition war das große Format des Abzugs ein technisches Problem gewesen, und es war sehr gut geworden … und außerdem: Stülpte ein Bildhauer etwa einen Sack über seine beste Skulptur?
Jeremy Folks Umschlag lag immer noch oben auf dem Tisch, wo er ihn hingelegt hatte; ungeöffnet, ungelesen. Als ich Hunger bekam, aß ich ein paar Tomaten und etwas Müsli und räumte die Dunkelkammer auf. Um sechs Uhr verschloß ich mein Haus und ging die Straße hinunter zu Harold Osborne.
Er erwartete mich jeden Sonntag um sechs Uhr zu einem Drink, und jeden Sonntag besprachen wir zwischen sechs und sieben, was in der letzten Woche passiert war und was für die nächste Woche auf dem Programm stand. Trotz seiner unberechenbaren Stimmungsschwankungen war Harold ein methodischer Mensch und konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn die Sitzung, die er als unsere Lagebesprechung bezeichnete, durch irgend etwas gestört wurde. In dieser Zeit ging immer seine Frau ans Telefon und nahm Nachrichten für ihn entgegen, damit er zurückrufen konnte, wenn es erforderlich war. Und einmal hatten sie in meiner Gegenwart einen Riesenkrach gekriegt, weil sie hereingeplatzt kam, um ihm zu sagen, daß man ihren Hund überfahren hatte.
»Das hättest du mir auch in zwanzig Minuten erzählen können«, fuhr er sie an. »Wie soll ich mich jetzt verdammt nochmal auf Philips
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