Reflex
Beste.«
Diesmal keine Ungläubigkeit. Die erkennbare Absicht zu lächeln.
»Steve hat mir gesagt, daß Sie Georges Kassetten mit den Dias vor dem Brand woanders untergebracht haben«, sagte ich. »So ein Glück.«
Ihr Lächeln verschwand und machte einem bekümmerten Gesichtsausdruck Platz.
»Die Polizei war heute hier«, sagte sie. Eine Art Schauer packte sie, und ihr Atmen wurde mühsamer. Sie bekam keine Luft durch die Nase, deshalb hörte man die Veränderung an dem Rasseln in ihrer Kehle.
»Sie sind hierhergekommen?« fragte ich.
»Ja. Sie haben gesagt … O Gott …« Ihre Brust hob und senkte sich und sie hustete.
Ich legte meine Hand flach auf die ihre über der Decke und sagte eindringlich: »Regen Sie sich nicht auf. Dann tut alles noch viel mehr weh. Atmen Sie dreimal tief durch. Oder vier- oder fünfmal. Reden Sie erst wieder, wenn Sie sich beruhigt haben.«
Sie lag eine Weile ruhig da, bis die Atemnot sich legte. Ich sah, wie sich ihre angespannten Muskeln unter der Decke entspannten, und schließlich sagte sie: »Sie sind viel älter als Steve.«
»Acht Jahre«, bestätigte ich und ließ ihre Hand los.
»Nein. Viel … viel älter.« Es entstand eine Pause. »Können Sie mir etwas Wasser geben?«
Auf dem Schränkchen neben ihrem Bett stand ein Glas. Im Glas war Wasser und ein abgewinkelter Trinkhalm. Ich steckte ihr den Halm in den Mund, und sie sog ein paar Zentimeter aus dem Glas.
»Danke.« Wieder eine Pause, dann versuchte sie es noch einmal, diesmal ruhiger. »Die Polizei hat … die Polizei hat gesagt, es war Brandstiftung.«
»Tatsächlich?«
»Sie sind … nicht überrascht?«
»Nach zwei Einbrüchen … nein.«
»Paraffin«, sagte sie. »Zwanzig-Liter-Faß. Die Polizei hat es in der Diele gefunden.«
»War das Paraffin von Ihnen?«
»Nein.«
Wieder eine Pause.
»Die Polizei hat gefragt … ob George Feinde hatte.« Sie bewegte ruhelos den Kopf. »Ich habe gesagt, natürlich nicht … und sie haben gefragt … ob er irgendwas besaß, was jemand so … so dringend … haben wollte … oh …«
»Mrs. Millace«, sagte ich sachlich, »haben sie gefragt, ob George irgendwelche Fotos hatte, für die sich ein Einbruch oder eine Brandstiftung lohnte?«
»George hätte nie …«, sagte sie mit Nachdruck.
George hatte sehr wohl, dachte ich.
»Hören Sie«, sagte ich langsam, »es ist Ihnen vielleicht nicht recht … Sie trauen mir vielleicht nicht … aber wenn Sie wollen, könnte ich diese Dias für Sie durchsehen und Ihnen sagen, ob meiner Meinung nach welche dabei sind, die vielleicht in die Kategorie fallen, von der wir reden.«
Nach einer Weile sagte sie nur: »Heute abend?«
»Ja, natürlich. Und wenn alles in Ordnung ist, können Sie der Polizei von ihrer Existenz erzählen … wenn Sie wollen.«
»George ist kein Erpresser«, sagte sie. Aus dem geschwollenen Mund klangen die Worte seltsam verkehrt, wurden aber mit Leidenschaft vorgebracht. Sie sagte nicht: »Ich will einfach nicht glauben, daß George jemanden erpressen konnte«, sondern »George hat es nicht getan«. Trotzdem war sie sich nicht so sicher gewesen, daß sie die Dias der Polizei übergeben hatte. Sicher, aber doch wieder nicht sicher. Gefühlsmäßig sicher. Verstandesmäßig unsicher. Auf eine unsinnige Art, die Sinn ergab. Ihr blieb kaum mehr als ihr instinktiver Glaube. Ich brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß dieser Glaube unangebracht war.
Ich holte die drei Metallkassetten von der Nachbarin, der man offenbar erzählt hatte, daß sie einigen Krimskrams enthielten, den die Einbrecher übersehen hatten, und sie führte mich in den verkohlten Überresten auf dem Nachbargrundstück herum.
Sogar im Dunkeln konnte man sehen, daß da nichts zu retten war. Zwanzig Liter Paraffin hatten ordentliche Arbeit geleistet. Das Haus war nur noch ein Mauergerüst, ohne Dach, ohne Fenster, das Gebälk knackte und verströmte einen beißenden Geruch. Und zu diesem brutal zerstörten Nest mußte Marie zurückkehren.
Ich fuhr mit Georges Lebenswerk nach Hause und verbrachte den Rest des Abends und die halbe Nacht damit, Dias an die glatte weiße Wand des Wohnzimmers zu projizieren.
Sein Talent war umwerfend gewesen. Während ich seine gesammelten Bilder betrachtete, eins nach dem andern und nicht über Jahre verstreut in Büchern und Zeitschriften, staunte ich ununterbrochen über seinen schnellen, treffenden Blick. Er hatte das Leben ein ums andere Mal genau in dem Moment eingefangen, den ein Maler
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