Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
überleben, darauf wartet er. Gleich hinter der Kassa sprach ihn jemand von hinten an, er erschrak. Du, sagte ein Mädchen, schöner Mann du, nicht erschrecken, darf ich dich etwas fragen, schöner Mann, willst du machen. Bitte? fragt er und zögert: nach den ersten Worten hatte er schon nach seiner Geldtasche gegriffen, er hätte ihr ein Zweieurostück gegeben, wenn er keines gefunden hätte, einen Fünfer. Willst du mich lieben, fragt sie, weißt du, ich hab Diabetes und brauch Geld. Für eine Sekunde fühlte er sich dieser kleinen vollendet unschuldig dreinblickenden Frau, die ihm in unförmige Kleider gehüllt und mit struppigem Haar gegenüberstand, überlegen. Für Sekunden fühlte er sich einem anderen Menschen wieder überlegen; gerade weil er in dieser Frau keine Frau sah und weil er selbst kein Mann sein mochte (kein Mann sein musste). Weil es ihm gerade völlig unklar war, was es mit Männern und Frauen auf sich hatte und was das lieben bedeuten sollte (das lieben sollte machen bedeuten, das machen lieben, aber diese Wörter konnten mit seinem und diesem anderen Körper (dem seinen und jedem anderen Körper) nichts zu tun haben). Weißt du, ich bin schon ein bisschen alt, sagte er (hat er diesen Satz nicht vor Jahrzehnten einmal gelesen und sich für eine Situation wie diese aufbewahrt?). Ach so, sagt sie erstaunt.
Er schaute hoch zur gläsernen Dachkuppel, über der Bäume ihre grünen Äste und Zweige ausstreckten; dort oben kann es eine unbekannte andere Stadt geben, die Übergänge wären für solche wie ihn nicht zugänglich. Ihm fällt ein, woher er sich den Satz geholt hat, aus einem Buch von Michel Leiris: ein Mann, der in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, deutlich älter als er selbst jetzt, durch Paris geht und von einer jungen Frau angesprochen wird (ein wirklicher Mann, trotzdem, der von einer wirklichen Frau angesprochen wird, die Leute aus dem Buch sind wirklicher als sie beide hier, die Leute aus den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als er selbst als ganz junger Mann, der nicht wusste, dass es Michel Leiris gibt, durch Wien ging und die schäbigen grauen Gassen der Leopoldstadt entdeckte: auch dieser junge Mann scheint ihm wirklicher als er selbst hier und jetzt). Die Securityleute am Fuß der Rolltreppe waren verschwunden, das Mädchen im Businesskostüm hatte ein Mobiltelefon am Ohr. Er dachte für einen Moment, er müsste möglichst schnell aus diesem sogenannten Shoppingzentrum raus, weg von all diesen Leuten mit Mobiltelefonen an den Ohren und bunten Einkaufstaschen in den Händen, zurück in die Wirklichkeit.
Am Ausgang, vor den selbstöffnenden Glastüren, wurde er noch ein zweites Mal angesprochen, sonst wird er nie angesprochen. Jetzt aber erschrak er nicht, sollen sie alle kommen, dir ist es recht. Meister, Meister, darf ich dich etwas fragen. Ned bös sein, Meister. Diese Frage, diese Sätze hatte er schon oft gehört. Er drehte sich zu dem Mann hin, schaute ihm in die Augen, blieb stehen, als würde ihn etwas festhalten, so wie ihn morgens die Kissen und Laken, die Atmosphäre in seinem Schlafzimmer festhalten. Das Gesicht des Mannes war ganz nah an dem seinen; ein schmutziges, wie von Erde verklebtes Gesicht. Ihm scheint, es wäre nicht Luft, die er einatmete, sondern eine rauchige, halb aus seinem Inneren, halb aus dem Inneren seines Gegenübers kommende Substanz. Er wird nicht recht verstehen, was ihm der Mann erzählt, aber er wird ihn fragen, wie er heißt, ihm Geld geben, er wird das als gerechte Strafe empfinden, dann, ratlos und erleichtert, wieder allein sein, den Mann schnell vergessen. Er wird glauben, das Alleinsein ausnützen zu können, und gleich noch lange kreuz und quer durch die Stadt laufen, die ihm jetzt eng scheint wie seine Wohnung. Vielleicht kann er jede Straße auslöschen, durch die er geht: als würde Wahrnehmen bedeuten: Auslöschen ; eine Computerspielfigur, die die Räume auffrisst, durch die sie sich bewegt. Zurück in die Wirklichkeit, durch Reihen von selbstöffnenden Glastüren, Tür für Tür, alles dazwischen zerstören, wie zur Strafe, weil es für ihn keine Bedeutung hat; bis er zu einem Türschild kommt, an dem ein Name steht, der die Erinnerung weckt oder in den Zusammenhang einer Erinnerung tritt (du kannst ihn nicht suchen, solange die Erinnerung nicht da ist, die unmögliche Erinnerung).
Niemand ist in der Nähe, zu hören ist nur der Wind in den Zweigen, an einem Ast pendelt der Körper des Erhängten.
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