Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
sicher seit viereinhalb Jahren); die Anzeige in dem kleinen Fenster steht auf 14, nein, auf 24. Du hältst das Auge an den Sucher und schaust auf das verkleinerte Bild des Zimmers; auf ein aus dem Zimmer ausgeschnittenes Rechteck mit einem kleinen Kreis im Zentrum und einem kleinen Kreuz darin, wie bei einem Zielfernrohr. Zahlen erscheinen unter dem Bildfeld, deren Bedeutung dir vage bekannt ist, ein blinkender roter Punkt. Du klappst den Blitz hoch, drückst auf den Auslöser, hörst das Klicken, das Bild wird für einen Moment schwarz. Du verschiebst den Ausschnitt mit dem Kreis und dem Kreuz ganz leicht, beginnst dich, dem Bild folgend, zu drehen. Es blitzt jedes Mal; wer hat die Batterien der Kamera erneuert. Wie viele unbelichtete Filme liegen irgendwo in den Schränken der Wohnung oder auf den Kellern und Dachböden im Haus draußen herum.
Sie weiß, dass sie völlig nichtssagende Fotos macht, nicht viel mehr als eine Leerstelle kann sichtbar werden. Dennoch scheint ihr, als könnten die Bilder einen Wert haben oder irgendwann bekommen; für einen Moment sieht sie durch dieses Zimmer hindurch ein anderes leeres Zimmer, eine Abfolge von Räumen; Zimmerfluchten quer durch die Zeit, die mit der Logik eines Traums eine ihr völlig unbekannte Geschichte erscheinen lassen, für einen Moment hat sie den Eindruck, sie könnte genau so gut und genau so schlecht in die Zukunft schauen wie in die Vergangenheit. Es gäbe einen romanhaften, immer wieder durch die verschiedensten Eingänge betretbaren Raum, in dem jedes Bild einen Wert hat, worauf will sie als Büchermensch hoffen, wenn nicht auf ein Buch, in dem sie zwischen Bildern und anderem Gerümpel Platz fände, sie und ihre Lieben, im Raum einer Wahrheit, wie sie nur in Büchern zur Geltung kommen kann: du hast dich nicht gehen lassen, du hast dich nicht vergessen und der Gewalt der Wirklichkeit entgegengeworfen, du hättest dir nicht geglaubt, hättest du es getan; du lebst unter dem Bann einer gebrochenen Magie, also brauchst du weiterhin die Bücher und ihr Versprechen, was auch immer es für eine Wirklichkeit sein mag, in der du nun plötzlich zu leben haben wirst. Sie erinnert sich an den Mann, der sich hinter der Kamera versteckt hatte, die Idylle ihrer Kindheit, ein unangenehmes Gefühl auf ihrer Haut, als könnten Blicke kratzen. Sie weiß nicht genau, was sie tut, sie will nicht Mona nachspionieren, sie folgt nur einem Impuls; überlegt nicht weiter, ob sie Indizien zu finden oder zu hinterlegen hofft; überlegt nicht weiter, ob sie hofft, ein Geheimnis aufzudecken, oder es fürchtet.
An vier aufeinanderfolgenden Tagen macht sie jeweils drei Aufnahmen, geht immer wieder ins Zimmer, dreht sich, in zwölf Fotos ist vom Fenster (ein dunkles Rechteck mit grell weißen Rahmen) über die Wand, an der das Bett steht, die Wand mit dem Schrank und der Tür bis zur leeren vierten Wand das ganze Zimmer in diesem Zeitraum von Monas Abwesenheit festgehalten, zwei Fotos bleiben am Ende leer auf dem Film.
Du kannst dir vorstellen, du wärst ein Tier, besser, eine Pflanze; oder einfach ein Ast, der vom Wind abgeknickt wird, von dem sich die Blätter nach und nach lösen, der von Füßen weitergekickt wird, von Flüsschen oder Rinnsalen weggeschwemmt. Du spürst dich als Ast, mit einem Glücksgefühl, spürst die Risse an der Rinde deiner Haut, dein holzig weiches Mark, du schüttelst den Blick ab, der an deiner Haut kratzt, mit jeder Bewegung. Später ist all das (sozusagen im Labor, unter den Stichen eines grellen Scheinwerferlichts) zu rekonstruieren, wenn deine Schwester oder wer auch immer versucht, in deine Haut zu schlüpfen, später sind diese Februartage zu wiederholen, von irgendeinem Bewusstsein, das sich dem deinen anzugleichen versucht, immer wieder, ohne sie je ganz zu erfassen, sie ganz in ihrer Wirklichkeit zu erreichen. Du bist viel zu leicht angezogen, die Kälte packt dich, sobald du das Haus verlassen hast; du saugst die Kälte in dich ein. Du hörst keine Stimmen, die dir sagen, du wärst zu leicht angezogen, dich fragen, wo du hinwillst, was du da tust, dich verstehen wollen, einordnen, missverstehen, du hörst nichts, in deinem Gefühl von Glück und Abgeschnittensein, du weißt nicht, wohin du gehen wirst: Füße sollen dich weiterkicken, ein Fluss weiterschwemmen, der Wind fortwehen. Übungen. Du könntest die Kinnlade herunterklappen und seitwärts schieben, kleine Schreie von dir geben, die die Passanten verschrecken. Du könntest eine
Weitere Kostenlose Bücher