Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
willkürliche Ordnung für deinen Weg durch die Straßen vorherbestimmen, dir vorsagen: jede zweite Straßenecke nach links abbiegen, dann jede dritte Straßenecke nach rechts, an jeder zweiten Straßenbahn- oder Autobushaltestelle die nächstbeste Straßenbahn oder den nächstbesten Autobus nehmen; niemals die U-Bahn; nach sieben Stationen wieder aussteigen; wenn du vorher an eine Endstation kommst, entsprechend viele Stationen wieder zurückfahren. Du kennst die Stadt nicht besonders gut, um wie viele Ecken musst du biegen, um nicht mehr zu wissen, wo du bist; wie viele Momente des Wiedererkennens von Orten wird es geben, von einem Straßenbahnfenster aus oder auf irgendeinem Platz mit einem dir bekannten Lokal oder Laden oder einem berühmten Gebäude, einem Ding aus der Postkartenwelt. Du kannst die Hausmauern mit den Fingern berühren: kleine Nischen öffnen sich, du stellst dir vor, langsam die Perlen von einer Kette zu lösen und eine nach der anderen zu hinterlegen, als Spur, die keiner lesen wird. Perle für Perle würdest du leichter. Du sitzt in der Straßenbahn und starrst auf den Nacken eines Mannes mit runder Glatze: schwarze Haarstoppeln auf verschwitzter Haut über dem Mantelkragen. Du hörst die Durchsagen aus dem Lautsprecher, ohne auf ihren Sinn zu achten, irgendwann überquert die Straßenbahn eine Brücke über den Kanal und macht im Park eine Kehre, an einem Kiosk dort neben dem Zaun, am Rand der Allee stehen biertrinkende Leute, einige Männer und eine kleine Frau mit struppigem Haar, und sehen so aus, als würden sie jeden Tag dort stehen, stundenlang, nur um die Zeit hinter sich zu bringen und zu glauben, sie hätten Gesellschaft. Du fährst zwei Stationen zurück, über die Brücke, steigst aus und gelangst an einen Platz, an dem mehrere Straßen schräg aneinanderstoßen. Du kannst in beinahe jede Richtung gehen. Ab und zu musst du dich auf ein Detail konzentrieren: ein Ladenschild, ein Gesicht, eine Gruppe von Tauben auf einem Balkon, eine Fassadenfigur, die für einen Moment zum Leben erwacht. Ab und zu legst du einen Tanzschritt ein. Du hast kein Geld in der Tasche; wenn du Durst bekommst, wirst du ins erste Lokal gehen, das auf deinem Weg liegt, jemand wird für dich bezahlen, jemand, der nicht fremder für dich ist als die Leute, die du dein ganzes Leben lang kennst.
Fast eine Woche lang (am besten gibt er noch ein paar Tage dazu) musste er auf das Abholen der Bilder warten. Dieses Warten schien ihm hinreichend Arbeit zu sein; er schaute kaum in sein halbfertiges Gutachten, geschweige denn dachte er über das zu Begutachtende nach. Allerdings hatte er auch schon die letzten Jahre seines Arbeitslebens immer weniger Notwendigkeit gesehen, während der Arbeit nachzudenken. Er trank mehr als sonst, schlief recht gut, merkte sich (als würde er trotzdem niemals ganz schlafen oder auch niemals ganz wach sein) seine Träume viel besser als sonst. In seinen Träumen war er manchmal tot, aber niemals erwachsen, er dachte das noch im Schlaf selbst, wusste, dass er träumte, freute sich darüber und freute sich über den Gedanken, der ihm gekommen war.
Einmal lief er nackt über eine Wiese, als ein Kind, ein weißer haarloser Körper im hohen Gras, vom Licht gestreichelt und gekitzelt. Er wundert sich, dass er noch so jung ist, seine Eltern sind doch schon so lange tot. Das Elternhaus steht doch schon leer, da ist kein Haus in der Nähe, nur diese Wiese, dieses Licht, dieses Kind, das nicht weiß, wohin es läuft, das allein ist und doch so sichtbar, für jeden so sichtbar, als würde es gefilmt. Im Haus, das es nicht mehr gibt, warten auf dem Sofa seine toten Stofftiere, die Bären und Esel und Affen, sitzen in ihren von der Mutter genähten Kleidern neben seinen toten Eltern, aber das ist nicht der Ort, von dem die Blicke ausgehen. Dort sind sie nur alle aufgereiht, er müsste seine Hose und sein T-Shirt finden und es verstehen sie anzuziehen, ohne sich immerzu im Hosenbein zu verstricken, zu stolpern, mit klammen Fingern keinen Griff an den Stoffen zu finden, dann könnte er sie besuchen. Jetzt sind es nur Fremde, in deren Blickfeld er steht, vermutlich völlig gleichgültige Fremde, kein bekanntes Gesicht kann sich unter ihnen finden, kein Blick, der ihn durchschaut (und dann kann die Freiheit unmittelbar in Angst übergehen, eine absolute Angst; ohne Außen und ohne Ausweg). Er dreht sich auf die andere Seite, er hustet, schlägt die Augen auf, schließt sie wieder, die Angst verschwindet
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