Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
selbst sie verlöre, kaum dass er sie zu Gesicht bekommen hat, oder weil sein Herrchen sie verlöre, kaum dass er sie angeredet hat (was er sicher selten tut; nur dann, wenn es ihm oder dem Hund im entscheidenden Moment unausweichlich erscheint, nur wenn ihm oder dem Hund der Moment entscheidend erscheint), oder weil sie selbst sich verlöre (und es wäre das, was den Moment aus der Sicht des Hundes oder des Mannes entscheidend machte). Der Mann erzählt ihr, während sie den Wein trinken und rauchen, eine langwierige Geschichte, etwas halb Erfundenes aus seinem Leben (denn sein ganzes Leben ist halb erfunden), und sie stellt sich ein Muster von Bewegungen vor, in das diese Geschichte zu übersetzen und dank dessen sie zu vergessen ist. Der Mann sitzt auf einem Stuhl, vorgebeugt, und scheint in alle Richtungen an ihr vorbeizuschauen, links, rechts, oben, unten, sie, steif aufgerichtet mit kerzengeradem Rücken, sitzt auf einer mit einem Leintuch bezogenen Couch, die sich für die Nacht in ihr Bett verwandeln wird. Ein Fauteuil ist mit einem Stapel von Zeitungen bedeckt, die Weinflasche steht auf dem Teppichboden, auf einem freigeräumten Fleckchen.
Übung: Dreh ganz langsam den Kopf, streck dich, spann, während du den Kopf drehst, die Nackenmuskulatur an, lass eine giftige Wärme in sie einströmen. Du musst jeden Muskel deines Rückens einzeln spüren, die Wirbel, die deinen Schädel und dein Becken verbinden, von Fleisch, Fett und Sehnen umschlossen. Schieb deine Schultern vor, millimeterweise, die Schulterblätter befreien sich von deinem Körper, kehren in deinen Körper zurück. Wie genau müsste jemand hinsehen, um von außen etwas davon mitzubekommen. Dein Blick saugt das Zimmer in sich ein, das zerzauste graublonde Haar des Mannes und den zerstreuten und traurigen Blick in seinem wächsernen, grauen Gesicht; gleichzeitig sieht sie das Muster, in das sie sein Gerede aufgelöst hat, und verdünnt es immer weiter, Lichter auf dem Parkettboden in einem leeren Zimmer, die Schatten von bewegten Blättern vor dem Fenster. Das Bild darf bloß keine Bedeutung bekommen, keinen Platz in ihrem Leben, nicht in der Gegenwart und noch weniger in der Vergangenheit.
Der Hund versucht begeistert zu wirken, schaut aber ab und zu verwirrt von Mona zu seinem Herrchen und von seinem Herrchen wieder zu Mona. Ein kleiner schwarzer Hund mit dichtem verfilztem Fell, der irgendwann beginnt sich japsend im Kreis zu drehen. Der Mann ist nicht so alt, wie er aussieht, aber er könnte ihr Vater sein; als die Flasche geleert ist, weiß er nichts mehr zu sagen. Ich bin müde, sagt sie, und er nickt beflissen. Ja, legen Sie sich nur hin, sagt er, ich kann sowieso nicht schlafen, er geht in die Küche und bleibt in der Tür stehen, er kommt ins Zimmer zurück und setzt sich in den Fauteuil. Er wird von ihren Zehen träumen, die er, als sie sich die Schuhe ausgezogen hat, angestarrt hat, ein kleiner Frauenfuß unter dünnem schwarzen Nylon, immer wieder, er wird sich immer wieder vorstellen, sie nackt gesehen zu haben, zumindest das, er wird sich kaum vorstellen können, er hätte sie berührt. In Wahrheit könnte er sie vielleicht berühren und umarmen, und es wäre ihr recht; er könnte sie berühren und umarmen, und sie würde dennoch am Morgen oder noch in der Nacht gehen und sich nicht an ihn erinnern. Ihr Körper würde sich erinnern, ein Geruch würde zurückbleiben, ein Gefühl von Verwundung; ein Geruch, ein Gefühl von Verwundung bleibt zurück, nach jeder Begegnung, nach jeder Nacht, die Zurückhaltung und das Vergessen können den Geruch und das Gefühl von Verwundung nicht löschen. Sie erinnert sich nicht an den Mann. Der Hund kuschelt sich an sie. Ich sehe schon, sagt der Mann, als er glaubt, sie wäre eingeschlafen, du machst dein Programm.
Sie wacht mitten in der Nacht auf und bleibt lange im Dunkeln liegen. Der Hund ist ins Vorzimmer gelaufen. Sie zieht die Beine an, starrt an die Decke, es riecht stickig im Zimmer, der Mief zweier Körper, zweier einander fremder Körper, der Mief von Zeitungen, abgestandenem Wein und Zigaretten, der Mief von Fremdheit und Nähe. Langsam wird es grau vor dem Fenster, es muss ungefähr sieben Uhr sein, aber ihr ist egal, wie spät es ist. In der Küche hält sie den Mund unter den Wasserhahn, die Spüle ist voll mit Tellern, Gläsern und Essbesteck. In der Ecke, neben dem Kühlschrank, ist hinter einem Vorhang mit geblümtem Muster eine Duschtasse eingebaut. Sie zieht sich aus und steigt
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