Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Fotos immer wieder an: dies ist irgendeine fremde Vergangenheit. Die Toten aus der Vergangenheit sind nicht mehr tot, sie haben in der Vergangenheit gelebt, leben in der Vergangenheit. Er versucht, einen direkten Blick aufzufangen.
Sie schläft, auf dem Boden zusammengerollt; sie wacht auf, der Himmel ist so grau und gleichmäßig wie vor Stunden oder Tagen, als sie sich hingelegt hat. Sie liegt mit offenen Augen da; dann treibt die Kälte sie zum Aufstehen, sie läuft los, zieht Schlangenlinien um die Bäume: die Schwere, die sie beim Sprung in kleine Gräben bekommt; die Kraft, die sich beim Aufstieg, vier Schritte hoch diesen Hügel, mit jedem Schritt einen halben Schritt zurückrutschend, in ihren Schenkeln formt. Es gibt Gräben, es gibt Aufstiege, der Wald ist nicht eben, die Bäume sind keine Birken. Mit jedem Schritt wird die Welt dichter, je dichter sie wird, desto wirklicher wird sie. Es gibt keine Himmelsrichtungen, die Regeln, nach denen sie sich fortbewegt, entstehen in der Bewegung. Sie zählt die Schritte, die Minuten, die Stunden nicht; irgendwann setzt ein eisiges Nieseln ein, sie wird weiter hochsteigen, durch Dunstfelder, wie durch Wolken hindurch. Was ist das für ein Berg, er hat keinen Namen; vielleicht schläfst und träumst du noch, die Grenze ist nicht klar, es ist nicht klar, auf welcher Seite der Grenze dein Wissen (deine Bewegung) sicherer, das heißt, fester in die Welt eingeschmolzen ist. Du hast Erde gefressen und ausgekotzt, du stinkst wie die Erde. Hinter einem Graben, mit feuchtem Laub, stößt sie auf eine Felswand und beginnt hinaufzuklettern, wenn du den Griff deiner Finger löst, kannst du endlos abstürzen, rückwärts fallen. Du kletterst weiter, zählst die Minuten, die Stunden nicht, deine Finger sind klamm und feucht, kaum noch zu spüren, dein Griff ist sicher, du denkst an nichts. Eine nasse Schicht liegt über deiner Haut. Du kletterst hoch oder jemand anderer klettert an deiner Stelle, irgendwo liegt die Angst, ein Klumpen Angst; aus dir ist alle Angst hinausgeschnitten, endgültig hinausgeschnitten. Deine Schulterblätter sind aus deinem Rücken ausgeschnitten, du atmest. Wenn du von oben in die Ferne schaust oder dich umwendest, kann es plötzlich aufklaren, eine weite, völlig unbekannte Landschaft kann sich zeigen, eine Stadt, in der du niemals gewesen bist, Häuserzüge mit roten Dächern, über Hügel hinweg, Flüsse, Dome oder Moscheen oder Tempel einer Religion, die du nicht kennst und nicht brauchst, obgleich sie die Wahrheit besitzt, die volle Wahrheit, die volle leere Wahrheit dieses Moments. Hinter den Dächern, den Domen, den Moscheen weitere Hügel, gelbe Felder, ockerfarbener, brauner Fels, Schichten von Farben und Farbnuancen, darüber Schichten von Wolken und Schichten von Blau, der Wind löst Wolkenfetzen, treibt sie zu ihr hin. Sie ist oben, es nieselt, kleine eisige Nadeln treffen ihr Gesicht, die Bäume sind hier karger, kahler, ein paar Meter vor ihr wird die Welt vom Nebel verschluckt.
Während sie schläft, fühlt sie sich immer wieder Traumsegmente lang umarmt; sie hört Fetzen von Reden, deren Sinn ein ganz anderer zu sein scheint, als ihn Reden auf Demonstrationen haben können, und doch gehören die Reden, mit ihrem fremden Sinn, zu einer Demonstration und lassen sie erst etwas begreifen, das wirkliche Demonstrationsreden sie nie begreifen haben lassen; dann wacht sie halb auf, spürt, wie die Nacht auf ihr lastet, ihr eigener Körper ist ihr schon Last genug, der schmerzende Druck hinter ihrer rechten Augenhöhle, rechts in ihrem Nacken; sie kehrt gleich zurück in eine Menschenmenge, auf irgendeinen Platz im Zentrum der Stadt, den sie nicht kennt, aber die Menschenmenge hat etwas Be drohliches für sie, so wie Menschenmengen für sie an sich etwas Bedrohliches haben, wenn nicht etwas anderes, eine Gemeinsamkeit, die doch momentelang da sein kann, die Musik eines Moments, dieses Bedrohliche überdeckt, die Musik, die Politik eines Moments. Diese Leute schwanken so sehr in ihren Absichten, sie könnten sich gleich gegen sie wenden, von einem geschickten Redner gelenkt. Ab und zu hört sie Geräusche und weiß nicht, ob ihr Schlaf diese Geräusche erzeugt, irgendetwas in der Wohnung oder irgendetwas draußen auf der Straße, irgendetwas in der Welt draußen; sie kann nicht mehr sagen, ob es einen Unterschied zwischen ihrem Schlaf und der Welt draußen gibt. Sie kann nicht sagen, von wem sie sich umarmt glaubt, von wem sie sich gerne umarmt
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