Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
(Privat. Eintritt verboten.) wartet, sich nicht gleich in Bewegung setzt, ein höflicher fast unsichtbarer Mann, ein Tänzer oder Zuschauer. Du stellst dir vor, er würde die Spielregel nachzuvollziehen versuchen. Du stellst dir vor, langsam würde sich diese Ordnung in seinem Geist abbilden, er würde sie zu verstehen beginnen, unwillig, und dann, sobald wie nur möglich, mit Gewalt das Spiel beenden wollen. Dich am Handgelenk packen, an einen anderen Ort führen, durch unauffällige Türen (Privat. Eintritt verboten.) und Sicherheitsschleusen hindurch (ein Piepsen und Blinken, das er mit einem lässigen Handgriff beendet), an einen Ort ohne Zuschauer, die Leute mit ihren niederösterreichischen Gesichtern fallen links und rechts aus seinem und deinem Blickfeld, du hüpfst, schwebst, Orangen, Zwiebeln, Kartoffeln, Zahnbürsten, Taschentücher, Küchenrollen, Rasierklingen, Glühbirnen, Servietten, er hätte eine Waffe unterm Sakko, einen hübschen kleinen Revolver, deine Augen schauen in sich selbst hinein, in die Leere, die tiefe weite Leere. Sie stellt sich vor, eine Orange zu essen: sie mit den Fingern zu schälen, dann Spalte für Spalte in den Mund zu schieben.
Nach Mitternacht wagt sie sich wieder ins Badezimmer, den ganzen Tag über hat sie sich in der Küche die Hände gewaschen, nachdem sie auf der Toilette war. Sie steht vor dem Spiegel, schaut sich in die Augen und hat den Eindruck, in der Pupille würden sich Risse auftun, wie Rinnsale, die Iris mit ihren flüssigen Farben dringe ein, die Außenwelt mit ihren zerfließenden Farben, während sich im Weiß des Augapfels kleine Äderchen öffnen und verzweigen; bis nur noch das Blut da ist und das Bild löscht, denkt sie, ihr Herz klopft. Neben ihr liegt der Haufen Wäsche. Um drei Uhr früh ist sie noch wach und schaut aus dem Fenster auf die Straße, es gibt hier zum Beispiel Wolkenstreifen am Himmel und nach einigen Minuten einen Mann in einer hellen Hose, der mit einer merkwürdigen Entschlossenheit aus einem Haustor tritt, die Straße überquert und dann in einem anderen Haustor zu verschwinden scheint. Ein kräftiger Mann mit einem Sack oder Bündel über der Schulter, schon weiß sie es nicht mehr, und sobald sie es nicht mehr weiß, beginnt es eine Bedeutung für sie zu bekommen. Wenn so jemand da wäre, denkt sie einen Moment, ein Arschloch wie der da, als Mitspieler, auf der einen, auf der anderen Seite, was für Seiten denn, sie bekommt Angst, vor dem Mann, vor dem Bündel über seiner Schulter, dem Bündel im Badezimmer, vor dem wenigen, das sie sehen kann, dem vielen, das sie nicht sieht.
Sie muss irgendetwas tun, noch in dieser Nacht, hinauslaufen, wohin denn, in ein Nichts ohne Zeitungen und Nachrichten, an einen Ort, der einfach da ist, nichts für sie bedeutet, sie müsste mit jemandem reden, dem erstbesten Arschloch unten auf der Straße, ihn zum Mitspieler machen. Jedes Gespräch schafft einen Ort, hält das Unsichtbare fern, das sich in der Wohnung hinter ihr ausbreitet, so als wäre in diese Wohnung, in der sie seit Jahren lebt und die sie als kleines Kind noch mit den Möbeln und dem Geruch ihrer Oma gekannt hat, der ganze Weltraum eingedrungen. Jemanden, den sie um drei Uhr früh anrufen oder gar besuchen kann, hat sie nie gehabt; und jeder Anruf bei jemandem Bekannten wäre, sobald sie nur den Namen ihrer Schwester ausspräche, so etwas wie ein Anruf bei der Polizei; sie hat sich Mona nie so nahe gefühlt wie jetzt, alle anderen gehören zur Polizei; abgesehen möglicherweise von zufällig aufgelesenen erstbesten Arschlöchern, für die sie niemand ist, eine junge Frau; eine Frau ohne Namen, ohne Ausweis, ein Stück Fleisch mit Augen und einer Möse. Panik, flüsterst du aus dem Fenster hinaus, als würde es etwas nützen, in Worten zu denken: du denkst unablässig, und alles, was du denkst und dir vorstellst, bezieht sich auf nichts und niemanden mehr, jeder Gegenstand löst sich auf, es ist unmöglich, das auszuhalten. Sie schlüpft in eine Hose, im Dunkeln, zieht sich einen Pullover über das T-Shirt.
Vielleicht hat Mona so etwas seit langem ausgehalten, vielleicht seit viereinhalb Jahren, vielleicht noch länger, vielleicht schon als Kind oder halbes Kind, den leeren Raum gespürt, der ins Haus eindringt, aus dem Wald, dem Garten, kannst du dich an ihren Kinderblick erinnern, müsste es nicht Fotos von ihr geben, unzählige Fotos, erinnerst du dich nicht an die Kamera vor dem Gesicht eures Vaters? Alles verschwimmt vor deinem
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