Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
ihr beide mochtet und mögt) waren und sind vielleicht die einzigen wirklichen Treffpunkte zwischen dir und Mona; wirkliche Treffpunkte außerhalb des Wirklichen: ah, das schneidet mir ins Fleisch, sagt Monas Stimme und wiederholst du mit Monas Stimme: als wäre ein Satz oder ein Lied ein Messer, ein zärtlicher, gewaltsamer Fingernagel, als würde er einen lustvollen Schmerz bereiten, der viel mehr wert wäre als jede bloße Erkenntnis. Sie möchte, dass die Musik aufhört, will nicht vom Sofa aufstehen, schaut auf die Zimmerdecke: eine weiße Fläche ohne Muster und Halt, von der sie endlos abstürzen kann. Ihr Hinterkopf auf der Seitenlehne des Sofas. Ihre angezogenen Knie. Ihre Füße in dicken Socken. Ihre Knie wie die Knie von niemandem, ihre Füße wie die Füße von niemandem, ihre Brüste wie die Brüste von niemandem, ihr Kopf wie der Kopf von niemandem. Sie steckt in der sonntäglichen Wohnung wie in einem kratzenden Pullover, sie steckt in jeder Sekunde dieses Sonntags wie in einem kratzenden Pullover, jemand beobachtet sie. Tu nicht so, als würdest du lesen, tu nicht so, als würdest du Musik hören. Du wartest nur und willst nicht wissen worauf.
Hinter einem großen, ganz von Misteln befallenen Baum sieht sie ein Licht, es muss Abend sein, der Nebel wird schwerer, dunkler: Morgen und Abend, Tag und Nacht, das lässt sich sagen, aber niemals eine Uhrzeit, ein Datum, ein Jahr, darauf scheißt du. Das Licht ist wie zerstäubt und wird manchmal, als wäre sie in ein Loch gefallen, einfach verschluckt, sie hält die Richtung, Regen im Gesicht, über Wurzeln stolpernd, sich auffangend, in die Schwerelosigkeit hineinstolpernd und sich in die Schwerelosigkeit hinein wieder auffangend. Die Bäume mit ihren Ästen lässt du hinter dir zurück, ein Ort steht für nichts, er ist bloß da; er besetzt keine Leerstelle der Erinnerung; ein Moment kann keinen anderen Moment ersetzen, auf keinen anderen Moment hindeuten; nichts kann etwas (jemanden) ersetzen, für anderes stehen. Ein Ast ist nichts als ein Ast, du spürst die Vergangenheit so wenig, wie du die Kälte und den Regen spürst, auch wenn die Vergangenheit da ist, so wie die Kälte und der Regen.
Der Baum steht am Rand einer Böschung, sie lässt sich hinuntertreiben, halb im Laufschritt, halb rutschend, auf den Lichtschimmer zu. Dort ist der Wald zu Ende, wahrscheinlich ist sie immer noch oder schon wieder nahe am Fluss, im Hintergrund leuchten plötzlich die Türme eines Klosters auf, gelb, in unbestimmbarer Entfernung. Die Luft ist feucht, sie kommt an eine Hecke, dahinter ein Zaun und ein großer Parkplatz, auf dem unterm Flutlicht nur wenige Autos stehen. Ein Supermarktschild mit gelben Buchstaben und schräggestelltem rotem I. Sie geht die Hecke entlang, hinter ihr der Wald, aus dem sie gekommen ist und in den sie gleich oder niemals zurückkehren wird, die Hügel, die sich von kahlen Wäldern verdeckt farblos bis zur Stadt hin und von der Stadt fort ziehen. Sie schiebt sich durch eine schüttere Stelle im Gebüsch und unter dem Zaun hindurch und achtet nicht darauf, ob jemand sie sieht. Auf dem Boden Papiertaschentücher, Kondome, Zigarettenstummel. Ihre Augen sind dunkel und groß, ihre Wangen mager; ihre Haut ist grau und dann papierweiß unter dem Neonlicht. Sie überquert den Parkplatz, geht an den Einkaufswägen vorbei, durch die Sicherheitsschleuse des Eingangs, sie muss längst jemandem aufgefallen sein, es muss sich längst ein Blick auf sie richten; von jetzt an verfolgt eine Kamera ihre Bewegung.
Du erfindest eine Spielregel; nichts kann dir geschehen. Wenn du einer Spielregel folgst, dann kannst du laufen, über diesen spiegelnden glatten Boden, mit einer Leichtigkeit, als wäre dein Körper nicht mehr nur dein Körper, als bräuchtest du keinen Körper, nein, als hätte dein Körper eine Form gefunden: ein Vogel, ein Ast, ein Blatt, eine Feder, der Wind, ein Vogel auf einem Ast, eine Spielkarte, aus der du als Dame, König, As steigen kannst, mit neuer Röte in deinen Wangen, dem Spiel verhaftet. Sie zählt die Regale ab, steuert den ausgewählten Punkt an. Die Leute mit ihren niederösterreichischen Gesichtern und ihren Einkaufswägen fallen links und rechts aus ihrem Blickfeld. Du darfst drei Dinge mitnehmen, vielleicht ist eins darunter, das du gebrauchen kannst. Sie hat keinen Schilling in der Tasche, aus den Augenwinkeln nimmt sie den Mann ohne Einkaufswagen wahr, der am Ende des ersten Korridors nahe einer unauffälligen Tür
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