Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
wissen will, an wen sie sich erinnert, an wen sie sich gerne erinnern will oder nach wem sich sehnen; sie kann nicht einmal sagen, ob die Umarmung ihr angenehm ist oder ob der Schrecken der Einsamkeit, der auf die Umarmung folgt, nicht nur ein nachträglicher Schrecken ist, ein Ekel vor dem Mann (wenn es ein Mann ist), der sich in ihr Bett, in ihren Schlaf, ins Eigenleben ihres Körpers eingeschlichen hat und ihr Empfinden durcheinanderbringt, ihr den eigenen Körper zur Last macht.
Du bist wach, aber die Welt ist nicht wieder da. Wie in einem Computerspiel, in dem du von einer Ebene in die andere stürzt, steigst du aus dem Bett und, wie dir einen Moment scheint, aus deinem fremd gewordenen Körper in die fremd gewordene Wohnung. Du hast den Eindruck, nicht richtig zu sehen, alles ist leicht verschwommen, wegen dieser Spannung hinter deinen Augen, die sich langsam mit der Spannung in deinem Nacken vereinigt, über den ganzen Kopf ausbreitet. Du möchtest nicht am Badezimmer vorbeigehen, frühmorgens auf dem erneuten Weg zum Klo (du hättest nicht abends in deiner Ratlosigkeit zwei Bier zum Einschlafen trinken sollen), vormittags, als du in den zähen grauen Sonntag hineintauchst: als würde dieser Raum nicht mehr zu der Wohnung gehören; als würde eine Leiche, ein unberührbarer Gegenstand drinnen liegen; als hätte sich eine andere Geographie über die vertraute geschoben. Du läufst hier herum und tust dabei nur noch so, als würdest du herumlaufen. Jeder Atemzug sagt dir, dass nicht selbstverständlich ist, dass du atmest; etwas Unerträgliches kann in der Wohnung sein, irgendwo in der Wohnung, eine Leiche; jemand Fremdes kann jederzeit in die Wohnung eindringen; jemand Fremdes beobachtet sie, bei allem, was sie tut; jemand Fremdes, eine Anwesenheit, eine Leiche, eine Leiche, die lebt. Sie trinkt ihren Kaffee und hofft, er könnte wenigstens die Watteschicht von ihrem Kopf ablösen, sie würde gern mit jemandem reden, jemanden anrufen, aber es ist Sonntagvormittag, und außerdem weiß sie nicht, was sie überhaupt erzählen kann; ob das, was sie erlebt, eine Geschichte ist, die sich erzählen lässt, ob irgendjemand etwas davon verstehen könnte. Und bist du nicht schon so weit, dass du mit niemandem mehr sprichst, weil du die Behauptungen der anderen nicht mehr erträgst; noch viel weniger deine eigenen Behauptungen, so künstlich bist du dir geworden. Du erträgst nur noch stumme Zeichen. Du denkst an die Frauen, die beste Freundinnen haben, denen sie alles erzählen können, das bilden sie sich zumindest ein, du denkst an Frauen, die mit ihren Männern auftreten, als wären sie zusammen ein einziges Wesen, du glaubst nicht, dass du sie beneidest. Geh raus und hol dir die ekelhaften Sonntagszeitungen aus dem Ständer, verbring ein paar Stunden damit, sie durchzublättern: denk dir etwas dazu, verwandle in Sätze, was du denkst, auch wenn du nicht weißt, an wen du diese Sätze richtest, auch wenn es nichts sein wird als ein langer Brief, den du ins Leere schickst, einer von vielen Briefen, die du ins Leere schickst, in eine leere Zukunft, in die Zukunft. Kann es sein, dass du die Menschenmassen von gestern vermisst; als etwas, das du, statt deiner leeren Gedanken und Sätze, den Sätzen aus den ekelhaften Sonntagszeitungen und Fernsehnachrichten entgegenstellen kannst? Aber seit wann ersetzen Menschenmassen Argumente und seit wann ersetzen sie einen einzelnen Menschen.
Sie sitzt mit den Zeitungen am Küchentisch, jemand beobachtet sie, die Sätze stellen sich quer, sie legt sich aufs Sofa, schaut in ihr Buch, findet nicht in die fremde Sprache (du studierst Anglistik und kannst nicht Englisch, sagt sie sich), und New York, wo das Buch spielt, gibt es gar nicht, sie legt eine CD ein, die Gitarren fahren ihr ins Mark, aber quälen sie heute nur, P J Harveys Stimme fährt ihr ins Mark, aber quält sie heute nur, diese Frau lebt mehr als sie selbst; nicht nur die Frau, von der sie nichts weiß, sondern schon die Stimme der Frau in diesem sonntagsgrauen Zimmer: No sweat, I’m clean, nothing can touch me, 50ft queenie, force ten hurricane , du hörst für ein paar Momente mit den Ohren und dem Kopf Monas zu: einzelne Sätze, einzelne Wörter, herausgeschriene Botschaften aus dem Nichts einer Fremde heraus, das ist alles, was Mona in Büchern oder Musik gesucht oder eigentlich nur gefunden, nicht erst gesucht hat, dieses Nichts einer Fremde in Büchern oder Musik (den wenigen Büchern und der wenigen Musik, die
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