Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Blick. Weißt du überhaupt noch, wie sie aussieht, könntest du ihr Aussehen beschreiben, ihr Gesicht aufzeichnen, könntest du irgendein Gesicht beschreiben oder aufzeichnen? Du schlägst die Tür hinter dir zu (hast du daran gedacht, den Schlüssel einzustecken?) und läufst die Treppen hinunter, ohne Licht zu machen, hinaus in die Kälte, deine Finger gleiten den Handlauf entlang, folgen seiner Krümmung. Monas Kinderblick, denkst du jetzt, müsste es sagen, er müsste es längst gesagt haben. Du könntest den Blick nicht aufzeichnen oder beschreiben, aber du siehst ihn für einen Moment ganz deutlich vor dir: das Kindergesicht und das andere, von der Kamera verdeckte Gesicht, als wären der Blick und die Kamera, die ihn festhält, auf immer miteinander verbunden; dort wo sie jetzt waren, nicht mehr in der Wirklichkeit.
Auf der Straße ist kein Mensch zu sehen, der Himmel ist eher grau als schwarz, grau und feucht, die Kälte packt dich, du saugst die Kälte in dich ein.
Sie ist dreckig, verschwitzt, rein; niemand kann sie berühren. Der erste Blick, der Zeitpunkt dieses Blicks entscheidet über die Möglichkeiten: du siehst diesen Typen, und damit siehst du schon seine Schwäche, die mit einer flüchtigen Eleganz überspielte Schwäche (du kannst ihn nehmen und liegen lassen), also wirst du nicht einfach weitermachen, es wäre langweilig, man würde dich, nach lächerlichen Momenten der Demütigung, nur zurückstecken in das alte Kästchen, auf dem dein Name steht. Du siehst, wie der höfliche Typ, ein Tänzer oder Zuschauer, nun glaubt, dich an seinem Faden zu haben, er weiß nicht, dass du ihn aus der Unsichtbarkeit gerissen hast, du wirst entscheiden, wann du es ihn merken lässt; wann du ihn merken lässt, dass er den Zeitpunkt verpasst hat. Schon ist das Netz von Blicken und Erwartungen wirklicher als die Regale, die Waren, du machst einen Schritt nach der alten Regel, noch einen Schritt; du wirst dir des Geruches nach Wald und nach Frau bewusst, den du ausströmst, so als würdest du ihn eben erst erfinden: eine dichte, verführerische und abstoßende Schicht der Täuschung, hinter der du mit deinem bisschen Hunger und Durst verschwinden kannst. Der Mann schaut nicht in deine Richtung und glaubt, er wüsste, was du vorhast; er spricht mit einem sogenannten Mitarbeiter oder tut so, als würde er mit ihm sprechen; er glaubt, er würde die Geschwindigkeit bestimmen, mit der du dich fortbewegst, auf das Regal zu, das du ausgewählt hast, vielleicht merkt er, immerhin, dass du ein Regal ausgewählt hast, vielleicht formen sich Kombinationen in seinem Hirn, immerhin, eine Traurigkeit in seinem Blick sagt dir, es gibt eine ganz kleine Chance. Jede Begegnung ist ein Eingang zu einem anderen Leben. In dem Regal findet sich Orangensaft, du lächelst, nimmst eine Packung in die Hand, du schaust nicht in die Richtung des Mannes, spürst, dass er sich in Bewegung gesetzt hat, leise, zwischen den regaleinschlichtenden Verkäufern und den einkaufswagenschiebenden Käufern mit ihren niederösterreichischen Gesichtern, ihren zerstörten niederösterreichischen Gesichtern und Körpern hindurch. Er will, dass du in seinem Blickfeld bist, aber noch nicht in seiner Nähe. Du drehst den Kopf, schaust in das glattrasierte Gesicht, die kleinen hellen regungslosen Augen, mit einer Hand hältst du die Orangensaftpackung, zwei Finger der anderen spielen mit dem Verschluss. Du kippst die Packung leicht in deiner Hand, als würdest du sie auf den Boden leeren, aber der Verschluss ist noch zu, dann wendest du dich wieder zum Regal, schaust auf die grünen, weißen, blauen Packungen, auf die Bilder von Orangen, Mangos, Äpfeln, Ananas, starrst auf die Packungen, die Bilder, bewegst dich nicht, bewegst dich lange nicht. Er muss unsicher werden, sein Drehbuch gerät aus den Schienen. Wenn er den ersten Schritt macht, wirst du es spüren. Ich verrate dir etwas, denkt sie, mir kann keiner mehr etwas tun.
Sie wacht am Nachmittag auf, in ihrem eigenen Bett, sie erinnert sich undeutlich, manchmal hat sie gedacht, sie hätte diesen Mann (den sie nicht wiedersehen will) nur geträumt. Sie hat sich treiben lassen wie eine Puppe, wie ein Stück Holz; an den wenigen Leuten auf der Straße vorbeigeschaut, den Typen, die aus den Bordellen in der Nordbahnstraße und rund um den Praterstern taumelten, den Taxifahrern, den paar Studenten, die Sonntag spätabends unterwegs waren, irgendwelchen Passanten, über die sie nichts wusste und nichts zu
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