Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
wissen brauchte. Sie bewegt sich durch die leeren Straßen wie durch eine Negativwelt, sie erinnert sich an die Menschenmengen, durch die sie sich gestern (in einem anderen Zeitalter) geschoben hat, du bist in dieser dunklen Welt eine verschwommen weiße Gespensterfigur, alles, was dir wichtig war, hat keine Bedeutung mehr. Irgendwann sitzt sie auf einer Bank vor einem Lokal am Wasser, dann ist dieser Mann (den sie nicht wiedersehen will) da, das erstbeste Arschloch, denkt sie (Sag mal, ist dir nicht kalt? Nein. Magst du was trinken?), sie kann tun, was sie möchte, sie kann tun, als würde sie ihm vertrauen. Sie braucht eine Umarmung, aber eine Umarmung ohne Bedeutung, als der Mann sie nach ihrem Namen fragt, sagt sie gedankenlos Mona, der Mann reicht ihr eine Bierdose, und sie trinkt; er schaut nicht gut aus, aber auch nicht schlecht, er hat ein vollkommen leeres Gesicht, er erzählt ihr eine wirre Geschichte, die erklären soll, warum er mitten in der Nacht hier alleine auftaucht, und noch dazu mit einem Plastiksack voller Bierdosen, offenbar schämt er sich dafür, irgendwo alleine aufzutauchen, alleine mit einem Säckchen voller Bierdosen, und offenbar möchte er die Erwähnung der für die Geschichte entscheidenden Person (seiner Frau oder Freundin; wie alt mag er eigentlich sein) vermeiden, sie registriert das beiläufig, sie nickt ab und zu, ein wie selbstständiges Nicken (jaja, sagt sie einmal, sie ist öfters im Flex, in Wahrheit ist sie dort einmal im Jahr, wenn es ein Konzert gibt, das sie interessiert), ein Nicken mit dem ganzen Körper und zugleich ohne den Körper und ohne sie selbst, von ihr ist nur ein Frösteln da. Wollen wir ficken, sagt eine Stimme aus ihr, der Mann (den sie nicht wiedersehen will) erschrickt ein wenig, das würde ihn (in der richtigen Welt) vertrauenswürdig machen und dich bestärken, es kann nichts passieren, aber was sollte denn in der Negativwelt passieren. Eine Welt ohne Schlaf, denkst du, eine Welt ohne Erinnerung. Er hört auf zu reden, eine Zunge in deinem Mund, ein Fahrrad, das durch leere Straßen geschoben wird, ein Körper, der deinen berührt, ein Lift, ein kleines Zimmer oder Büro mit einer Schlafcouch, einem Schreibtisch, Papieren, die überall auf dem Boden verstreut sind, und Fenstern ohne Vorhänge. Sie liegen zwischen frischem Bettzeug, eine Hand presst ihren Busen, sie fühlt nichts; dann fühlt sie sich verletzt, aber gleichzeitig seltsam befreit. Sie gräbt ihre Finger in einen bleichen Rücken, einen Hintern. Im Nachhinein, als sie das Sperma zwischen ihren Schenkeln kalt werden spürt und der Atem des fremden Mannes, sein Geruch nach Zigaretten, Bier und Schweiß plötzlich etwas Wirkliches zu werden scheint, etwas Wirkliches, Lästiges, Stinkendes, schwer Loszuwerdendes (und gerade das sollte doch der schönste, der ruhige endlose Moment sein), hält sie nichts mehr in diesem Raum, alles ist trostlos und eklig, so wie es bei ihr zu Hause trostlos und eklig ist und sie von Raum zu Raum in immer neue Trostlosigkeit und immer neuen Ekel zu fallen fürchtet. Sie schaut in das leere Gesicht des Mannes (das sie nie mehr wiedersehen wird), das ist ein Mensch, irgendein Mensch, ein Peter oder Roland oder Robert, nicht bloß ein Körper, was hat er so nah an ihr verloren. Eine andere sein, denkt sie, und wieder eine andere und niemand mehr. Seine Blicke auf ihrem Rücken, ihrem Hintern, als sie aufsteht, um sich anzuziehen, sie dreht sich um, er hat die Augen geschlossen.
Der Kopfschmerz ist wieder da und sitzt hinter ihrem linken Auge, sie setzt sich ihre Kontaktlinsen nicht ein, kocht Kaffee, öffnet in Monas Zimmer ein Fenster, das Foto der silbernen von Rostspuren angenagten Schraube auf weißem Fotopapier und ohne Hintergrund in ihrem Rücken, warum eine Schraube, stell dir vor, die Schraube ist ein Körperteil von dir. Sie stellt sich vor, die Roststellen könnten sich ausbreiten. Gab es einen Moment von Lust, einen Moment des Vergessens? Du willst dich nicht erinnern, du erinnerst dich nicht. Du siehst eine graue Mauer, davor verschwimmt der Kastanienbaum, kahle Äste, in den Ecken des Innenhofs verschrumpeln ein paar Blätter vom letzten Herbst, du siehst nicht, dass es Blätter sind, du weißt es; du siehst nur Farben, die keine Farben sind, ein graues Braun. Atmen, ruhig atmen. Die Gemeinheit der Welt, denkst du, die Gemeinheit der Welt, die Regierung, der Tod, die Männer, die Zeitung, Mona (ihr Fehlen), die Gemeinheit der Welt. Das Fernsehen, die
Weitere Kostenlose Bücher