Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
begreift schnell, dass er sie mit jemandem verwechselt, offenbar mit ihrer Schwester. Er kommt auf sie zu, etwas ungelenk und mit schiefem Lächeln (so sind sie fast alle: etwas ungelenk, etwas schief; anders wären sie schon überhaupt nicht zu ertragen). Was ist mit dir passiert, fragt er, ein paar schlechte Nächte, sagt sie, er entschuldigt sich (Mona weiß nicht so ganz wofür) und ist gleichzeitig auf unbestimmte Art eingeschnappt; er steht da, schaut sie an, scheint zu warten. Sie schaut ihn an und schweigt. Du kommst schon mit, Mona, oder, fragt er schließlich, nein, sagt sie (sie kann doch nicht ihre Schwester ersetzen, sie sieht ihre Schwester und diesen Typen vor sich, in einem halbdunklen Zimmer, einem kleinen Zimmer mit einem Schreibtisch und einer Schlafcouch, ungelenke Körper, die einander suchen und vielleicht auch finden, aber nicht merken, dass sie sich finden, nichts, worüber sie nachdenken müsste; aber wieso kennt er ihren Namen.)
Er fingert an einem Plastiksäckchen herum, ein Mann, der unfähig ist, eine Frau von einer anderen Frau zu unterscheiden, sie möchte laut loslachen; gleichzeitig erscheint es ihr in unbestimmter Art als ein Erfolg; ein Erfolg ihrer Methode; obwohl sie niemals daran gedacht hat, in irgendeiner Weise ihrer Schwester ähnlich werden zu wollen.
– Mein Vater, sagt sie, ist einfach morgens aus dem Haus gegangen, ein paar hundert Meter in den Wald hinein, durchs Dickicht hindurch, eine Böschung hinabgeklettert, und an einer gar nicht besonders finsteren Stelle, aber abseits von allen Wegen, hat er einen Baum ausgesucht und sich daran aufgehängt.
– Das tut mir leid, sagt nach ein paar Sekunden Stille dieser Mann, dieses Schaf, halb zu Mona, halb in die Nacht hinein, die sich über dem schwarzen Wasser des Kanals dehnt, in dem Lichter schwimmen.
– Das ist furchtbar, murmelt er dann noch und setzt, etwas lauter, hinzu: Eben erst kürzlich? (Er denkt, er muss richtiges Interesse zeigen, er kann nicht gleich flüchten, erst muss er richtiges Interesse zeigen.)
– Nein, vor fünf Jahren.
– Ach so.
– Macht das einen Unterschied, fragt Mona scharf. Macht es einen Unterschied, ob du gestern einen Mord begangen hast oder vor fünf Jahren? Ob du gestern verliebt warst oder vor fünf Jahren? Ob jemand gestern noch da war oder vor fünf Jahren?
Sie denkt, es ist vollkommen sinnlos, mit anderen Menschen zu reden. Sie hat keinerlei Verbindung zu anderen Menschen. Sie greift dem Mann an die Wange, er fängt an zu zittern.
Als er um elf Uhr abends nach Hause kommt, ist das Badezimmer leergeräumt, nur seine Rasierklingen, sein Aftershave, seine Zahnbürste und zwei oder drei halbleere Tuben voll von Werweißwas mit wohlklingendem Namen sind zurückgeblieben. Er schaut in Pres Zimmer, ihr Laptop ist nicht mehr da, im Bücherregal glaubt er ein paar Leerstellen zu erkennen, er hat keine Ahnung, was fehlt, aber der allgemeine Eindruck ist ein Eindruck von Leere geworden, das Bild hängt noch an der Wand.
Er versucht sich vorzustellen, er könnte in das Innere dieses Gemäldes hineinsteigen oder wäre sogar schon (gerade eben erst, vor wenigen Stunden oder Minuten) dringewesen; es ist nicht ganz klar, ob man sich an solche Erlebnisse erinnern kann (er möchte diesen Satz in irgendeine Datei in seinem Computer schreiben: Es ist nicht ganz klar, ob man sich an solche Erlebnisse, nein, Ereignisse, nein, Wunder (nein) erinnern kann; es gibt eine offene Datei auf seinem Computer, in die vielleicht solche Sätze passen, wie er sie in seiner wissenschaftlichen und bald schon eigentlich-nicht-mehr-wissenschaftlichen Karriere niemals schreiben durfte. Jeder Lichtstrahl kann eine neue Welt hervorbringen). Vielleicht ist es in Wahrheit auch unmöglich, jemals wieder herauszukommen, in etwas wie eine wirkliche Welt. Es ist ganz gut, dass er nichts fühlt; er müsste ja jedes Gefühl als Selbstmitleid identifizieren, und es müsste ihn davor ekeln. Sogar ein Gefühl der Liebe (er empfindet kein Gefühl der Liebe) wäre nichts als Selbstmitleid, und es müsste ihn davor ekeln. Wenn er sich darüber freut, wie klar er plötzlich denkt, und merkt, dass er sich darüber freut, so ist das auch eklig. Für einen Moment erschreckt ihn allerdings, dass Pre dagewesen ist; bis vorgestern war sie beinah jeden Tag da, jetzt erschreckt es ihn aber, wie ein Besuch aus einer anderen Welt (ein Lichtstrahl; nicht für ihn; seine Abwesenheit gehört dazu, sie kann nur da gewesen sein, weil er nicht
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