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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Stangl
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Herr Ingenieur, wenn es solche Titel noch gibt, nicht ganz anders verhalten als du und gleich den Spieß umdrehen; würde er nicht eine völlig andere Art von Arschlochhaftigkeit entfalten), den ganzen Abend müsste Herbert essen und trinken und reden, reden und reden, essen und trinken und reden bis zur Auflösung; ein entsetzlicher Beruf, eine merkwürdige kleine Hölle; was mag noch in ihr lauern (auch auf dich, wenn du Herbert nicht mehr loswirst und ihm Tag für Tag über den Weg läufst: Servas, Herr Professor, läuft viel Gesindel umeinand auf der Gassen, gell).
    Niemand ist auf der Straße, eine lange Reihe von parkenden Autos zieht sich zur Straßenecke; dahinter beginnt eine neue lückenlose Reihe parkender Autos, die Straßenlaternen sind eingeschaltet, hinter den Fenstern und den Vorhängen in den Fenstern leuchten grelle Deckenlampen und blaue und grüne Fernseh- und Computerbildschirmlichter. Es regnet nicht mehr, er möchte einen kleinen Spaziergang machen, sich leer fühlen wie früher nach einem schönen Kinobesuch und glücklich, allein zu sein. Das Viertel ist überschaubar; die Häuser sind nicht schief, eine Mischung aus Gründerzeitbauten, Sechzigerjahrbauten, halbmodernen Neubauten, alle vier bis sieben Stockwerke hoch, die Straßen gut gepflastert, du siehst nicht durch die Türen in die Innenräume hinein, zu den Treppen und Kellern, den Tischen, hinter denen Menschen sitzen, den Sofas, auf denen Menschen liegen und, überrascht, doch nicht allzu sehr, zu dir aufschauen würden, wenn du diesen Raum beträtest. Du fühlst dich nicht leer und nicht allein, sondern nicht vorhanden; alles geht weiter, nicht von dir zu beherrschen, überall sind Sätze, Stimmen, du erkennst die Stimmen wieder und weißt nicht, wovon sie reden, und kannst niemals antworten. Einen Moment lang hast du den Eindruck, du bestündest aus allen deinen Toten, allen, die du verloren hast, und nicht mehr aus dir selbst. Du bewegst dich mit deinem Körper, aber dein Körper, das sind alle deine Toten, nicht du selbst, alle, die du verloren hast, Pre, die Geliebten vor ihr, an die du dich kaum erinnerst und in den letzten Jahren nie je erinnern wolltest, wer weiß, ob diese für dich Toten irgendwo noch zu leben glauben, dann die in jedem Fall Gestorbenen, du warst dabei oder hast die Anzeigen gelesen oder warst auf dem Begräbnis oder hast geweint und geweint und geweint; das ist der Beweis; doch sie sind jetzt wieder oder immer noch da, ersetzen dich jetzt, überall sind Stimmen, du gehst immer schneller, I’m gonna twist your head off, see , sagt eine der Stimmen und du siehst dich an einer Hausmauer kleben, schuldig an zufälligen fremden Toden, dem Tod von Toten, die mit dir gestorben sind, kannst ein Eselsgeheul ausstoßen (aber in deiner Tasche sind der Autoschlüssel, der Wohnungsschlüssel, das Portemonnaie, du greifst in deine Tasche, du hast einen Namen, eine Adresse).
    Er schaut auf die Häuser und die Straßen, im Licht der Straßenlaternen scheinen sie zurückzukippen ins Zweidimensionale; wie in einen Nebel getaucht, der sie aber nicht verschwimmen lässt und ihnen im Gegenteil eine seltsame Deutlichkeit gibt. Vielleicht eine Deutlichkeit im Verschwimmen: Schicht über Schicht sind gleichzeitig sichtbar; verbergen einander, weisen aufeinander. Etwas saugt die Traurigkeit aus ihm heraus, etwas saugt die Stimmen in sich ein, ein unbestimmtes Verlangen tritt an ihre Stelle
    Er erinnert sich, warum er einmal das Bild gekauft hat, das nun seit Jahren in Pres Zimmer hängt, ohne dass es jemand anschauen würde, Studie XII/4 : zuerst ist da fast nichts, dann scheint aus Schichten von Weiß langsam eine Struktur hervorzuschimmern; aber nicht so, als hätte sie jemand gemalt, nicht so, als würden Bilder jemanden brauchen, der sie malt, genau so wenig wie sie jemanden brauchen, der Wörter für die Strukturen hat, die sie hervorscheinen lassen. Er ist es, der etwas braucht, den es nach etwas verlangt, nach etwas Unbestimmtem, aber Deutlichem, einem Fastnichts; nach fast nichts.
    Die Musik hat aufgehört, ein paar Leute hängen noch am Kai herum, ein Dealer (ein ganz kleiner Mann mit grünen Augen) redet sie an und sie schüttelt den Kopf, dann sitzt sie da und schaut aufs Wasser, der kleine Pier rechts von ihr, in ihrem Kopf das Echo der Musik, Lichter, die sich in den schwarzen Wellen spiegeln. Ihr ist kalt. Sie dreht sich um, ein Typ starrt sie an; nicht so, wie Typen sie eben anstarren, sie starrt zurück und

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