Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
ihrer Lederjacke, ihren graugrünen Jeans, mit kälteverbranntem rotem Gesicht geht sie wie ein Gespenst zwischen ihnen hindurch, gekrümmte Parkwege entlang, am trockenen Brunnen und den Minarettsäulen der Kirche vorbei in Richtung Schwarzenbergplatz, unter einem dreckigen grauen Himmel.
Der Demozug ist schon dabei, sich vom Ballhausplatz wegzubewegen, als sie hinter der Minoritenkirche aus der U-Bahn steigt, das Tröten und Trommeln und Trompeten empfängt sie, irgendjemand spielt Saxophon, sie läuft hinter den Leuten her, lässt sich einsaugen vom Lärm und der Bewegung; gleichzeitig ist es anfangs so wie immer, sie ist halb drinnen und halb draußen, gehört dazu, aber nicht ganz. Statt direkt zur Oper zu ziehen, soll so etwas wie ein Angriff über die Flanken unternommen werden, und der Zug bewegt sich in einer Art Halbkreis zunächst in die Gegenrichtung, füllt den Kohlmarkt zwischen den teuren Geschäften aus, wieder sind es Tausende und werden (wie ihr scheint) mit jeder Minute mehr, manchmal fragt sie sich, ob sich um sie ein kleiner Kreis von Leere bildet und ihr Abstand zu den anderen Menschen größer ist als der Abstand der anderen Menschen untereinander, manchmal fragt sie sich, ob dieser Kreis immer größer wird, sie müsste einen Tanzschritt machen, um ihn zu überwinden, der Tanzschritt würde den Kreis nur erweitern. Ein weißer Raum.
Du musst rückwärts tanzen, fällt ihr ein, und gleich darauf ein Traum, den sie in der letzten Nacht gehabt hat, einer jener Träume, in denen ihr Vater mit leiser Stimme alles erklärt und sich entschuldigt und verspricht, es rückgängig zu machen. Wie willst du das tun, sagt sie, mit Blick auf sein seltsam verzerrtes Gesicht, sie weiß, dass sie ihm nichts von Mona erzählen darf, und fühlt sich stark, weil sie auch wirklich nichts von Mona erzählt. Dann merkt sie, dass sie sich im Wald befindet, die Schritte im Wald, der wieder jungfräulich wird, laufen rückwärts. Eine Umkehrung der Zeit, es gibt das also. Gleich findet sie das Haus, wenn das Haus schon steht, den Garten, das Licht eines Sommers, an den sie sich im Wachen nicht erinnert, einen endlosen Sommer, als ihr ein ganzes Leben bevorstand, einen Moment, in dem ihr ihr ganzes Leben als endloser Sommer bevorstand, sie brauchte sich nur zu regen, halb noch im Schlaf, den Blick zu heben, die Sonne scheint durch die Jalousien herein, draußen scheint die Sonne, und sie kann ins Freie gehen. Für eine Minute oder länger geht sie mit geschlossenen Augen, mit den ganz langsamen Schritten einer Demonstrantin, immer geradeaus, ohne an jemanden anzustoßen, ohne ihre Augen oder ihr Hirn, so scheint es, zum Gehen zu brauchen. Wi-der-stand, Wi-der-stand, rufen die zehn- oder fünfzehntausend Menschen um sie. Du und diese anderen, ihr schiebt all die Touristen, die Einkäufer, Schaufensterbummler, Passanten, Kaffeehaustanten vom Graben und vom Stephansplatz in die Häuser und Seitengassen, ihr geht am Erzbischöflichen Palais vorbei und biegt in die Wollzeile, aus der Pizzeria an der Ecke starren euch Leute entgegen, mit Gesichtern, aus denen jede Meinung, jedes Wissen, jedes Interesse gelöscht ist und die nur das Ungewohnte, das Befremdliche an eurer Anwesenheit wahrnehmen (sind es für dich nicht Spiegelbilder, weißt du noch, wogegen du demonstrierst, gegen welchen auf dem ganzen Land liegenden Druck, doch, du weißt es, aber du musst es in diesem Moment nicht wissen, du musst in diesem Moment nicht denken, nichts wissen, schon gar keine Meinung haben, du musst nur da sein). Ihr geht an den Buchhandlungen vorbei, einer mit Brille dreht sich versehentlich oder absichtlich halb um, und eure Blicke begegnen sich, gleich starrst du durch ihn hindurch und wendest, vielleicht mit winzigem Erröten, den Blick ab, du kennst diesen Jemand, und vor wenigen Wochen wart ihr noch sozusagen gemeinsam auf der Demo gegen die Angelobung der Regierung, wie viele andere, die du kennst, von der Uni oder aus Cafés oder aus irgendwelchen Nächten, haben sich in den letzten Minuten schon nach dir umgeschaut. Der Jemand, der stehengeblieben ist und den du jetzt überholst, beißt sich auf die Lippen und schaut weg. Es gibt keine größere Schande als die Schande, allein zu sein, so allein, wie sie es ist; sie ahnt für einen Augenblick, dass sie immer so allein sein wird. Gleichzeitig denkt sie an die lächerlichen Dialoge, die sie mit diesem Jemand führen hätte müssen, schreiend, wegen des Hintergrundlärms, Dialoge, die
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