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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Stangl
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Raum ziehen, Fotos, die niemand je gesehen hat, auch er selbst nicht, wahrscheinlich, sagt sie, auch er selbst nicht (denn von den beiden Filmdosen in ihrem Bücherregal will sie nicht sprechen müssen, gerade noch hat sie die Kurve gekratzt, mit einer kleinen Lüge, bei der sich der Gesichtsausdruck ihres Gegenübers nicht verändert). Sie hat geredet wie zu einem Lehrer, einem Therapeuten, einem Beichtvater, furchtbar, ein Beichtvater, ein Lehrer, ein Therapeut. Sie spürt plötzlich eine Leere in der Mitte ihres Körpers, es gibt keine Mitte eines Körpers oder von sonstwas; was man Mitte nennt, ist Leere. Für einen Moment oder für Minuten oder für Stunden glaubt sie, sie kann nicht mehr aufstehen, sie weiß nicht mehr, wie man sich bewegt, einen Fuß vor den anderen setzt, sich aufrecht hält.
    Dann ist sie draußen und läuft zu Fuß auf den Kieswegen zwischen den Häuschen, dann eine Autostraße entlang, auf einem Bürgersteig, auf dem sie als einzige geht, Autos brausen an ihr vorbei, fast alles Lastwagen. Sie stellt sich vor, sie wäre ein Ast, der vom Wind abgeknickt wird, von dem sich die Blätter nach und nach lösen, der von Füßen weitergekickt wird, von Bächen oder Rinnsalen weggeschwemmt. Sie spürt sich als Ast, beinah, spürt die Risse an der Rinde ihrer Haut, ihr holzig weiches fast faulendes Mark, spürt sich nach, wie sie es beinah spürt, richtet ein grelles Scheinwerferlicht auf dieses Gefühl, um es zu fassen; wie jemand, der den Moment festhalten will, in dem er einschläft, diesen Moment des Übergangs. Irgendwann ist sie in einer Gegend mit U-Bahnstationen, Supermärkten, Zinshäusern und Gemeindebauten. Sie ist nicht allein auf der Straße, sie möchte von keinem gesehen werden. Einmal kommt ihr ein Afrikaner entgegen, sie sieht ihn schon von weitem, und plötzlich weiß sie nicht mehr, wie sie schauen soll, sie bekommt diesen Blick, von dem sie ahnt, dass jeder Afrikaner in diesem Land ihn kennt, diesen entgeisterten Nicht-Blick, dieses gezwungene verschämte Nicht-Anstarren, und sie würde gern ein Taschentuch hervorholen, um sich die Nase zu putzen, oder so tun, als hätte sich eine Kontaktlinse verschoben, hat aber keine Taschentücher dabei und trägt heute Brillen, und es fällt ihr auch nicht ein, sich zu bücken, um sich die Schuhe zuzubinden. Der Afrikaner (oder ist es ein Österreicher mit dunkler Hautfarbe) spuckt auf den Boden, während er an ihr vorbeigeht, und sagt ein scharfes Wort, das sie nicht versteht. Sie dreht sich nicht um, ihr Blick entspannt sich, sie denkt, sie möchte sterben. Ein sichtbares Zeichen ihrer Gesinnung tragen, ein W oder eine offene Handfläche oder ein durchgestrichenes Mascherl (eine Zeit lang werden diese Symbole noch verständlich bleiben), selbst das würde ihr nichts nützen, es geht um mehr, um Tieferes. In diesem Moment weiß sie, dass sie sie selbst ist, das Zuviel an Bewusstsein nicht losgeworden ist und nie loswerden wird; Mona hätte ihn einfach angeschaut oder nicht angeschaut, diesen schönen Mann; sie sagt sich vor, dass sie sterben möchte; als könnte es sie beruhigen, als könnten Wörter und Sätze und Erklärungen sie noch beruhigen, sagt sie sich das vor und sagt sich dann das englische Wort self - conscious (ein Wort mit einer richtigen und einer falschen Bedeutung) vor.
    Du musst deine europäische Fresse auslöschen.
    Sie stellt sich vor, der Mann in dem zugemüllten Haus am Stadtrand hätte diesen Satz gesagt, sie steht zu Hause am Fenster und spricht den Satz mit seiner Stimme oder mit etwas, das sie für seine Stimme hält, laut aus. Solche Sätze müsste ein Lehrer (furchtbar, ein Lehrer) ihr sagen.
    In dieser Wohnung hat sie zwei Betten, zwei Kleiderschränke, viele Bücher der einen und einige Bücher der anderen Art, sie kann auswählen (eine Wahrheit, die eine andere Wahrheit aus den Angeln hebt). Nach einiger Zeit scheint es, sie hätte sich gefangen, sie geht öfter aus dem Haus und trägt dabei andere Kleider als früher (es fällt keinem auf), etwas beginnt sich zu bewegen, etwas verändert sich, das muss nicht heißen, dass sie der Zeit erlaubt weiterzulaufen, Wunden zu heilen: vor vier, nein, schon fünf Jahren hat sie das getan, sie wird es nicht ein zweites Mal tun. Einmal kauft sie sich eine Streifenkarte, knickt sie vor dem Entwerten an der richtigen Stelle ab und besucht ihre Mutter, in dem Haus, in dem diese nun (was sie niemals verstanden hat) das ganze Jahr wohnt, und ihre Mutter, am Zauntürchen
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