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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Stangl
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wenn sich keiner dafür interessiert, was sie tut. Sie erinnert sich, wie sie als kleines Kind und als Elf- oder Zwölfjährige ihren Körper kennenlernte; nur um ihn gleich wieder zu vergessen; ein Kind zu sein, ein Mädchen (eine Schülerin), nicht dieses andere, von dem sie jetzt wieder merkt, dass sie es ist, so wie Mona es war und ihr, weil sie es war und nicht vergessen konnte, dass sie es war, immer fremder wurde. Nicht sie selbst, etwas, das nie sie selbst sein konnte und sein wird. Nicht Mona selbst, etwas, das nie sie selbst sein konnte und das sie doch viel mehr war als das in Schulen oder Universitäten oder auf Partys oder früher im Haus (du erinnerst dich kaum) sichtbare Mädchen; als die in der Wohnung morgens oder nachts in der Küche, mit einer Tasse Kaffee, einer Zigarette in der Hand, mit angezogenem Knie auf ihrem Stuhl sitzende dich anschauende sichtbare Frau.
    Du siehst sie dasitzen, ihren Mund bewegen, es ist egal, was sie sagt. Der Zigarettengeruch ist aus der Wohnung, aus Monas Zimmer verschwunden. Du sitzt da, mit angezogenem Knie, bewegst deinen Mund, spürst die Mundbewegungen, niemand hört die Laute, die deine Zunge, deine Lippen, dein Gaumen, deine Zähne, dein Atem formen; sie formen sich nicht zu Wörtern, zu Lügen. Du sitzt im Zimmer als würdest du im Abbild des Zimmers sitzen.
    Wenn sie die anderen Kleider trägt, schauen die Hausbewohner, die sie im Gang trifft, nicht auf, murmeln ein Hallo oder Grüßgott, sie können die eine oder die andere der Schwestern in ihr vermuten. Wenn sie, es kommt vor, jemanden trifft, der Mona gekannt haben müsste, ist keine Irritation zu merken, als wäre kein Bild von ihr zurückgeblieben, in niemandes Bewusstsein ein Bild (ihr scheint jetzt, ihre Schwester hatte noch weniger Freunde als sie; Mona, die bei Partys wie von selbst im Mittelpunkt stand, tanzte, redete, gestikulierte, lachte (du siehst sie, stumm, in Zeitlupe) wie ein Vogel durch die Luft oder ein Fisch durchs Wasser glitt, während du meist allein in der Küche oder auf dem Balkon standest, im Garten herumwandertest, Bier trankst und Zigaretten rauchtest, vor denen dich ekelte und von denen du Kopfweh bekommen würdest, dabei dachtest nicht einmal du selbst, du würdest schlechter ausschauen als Mona, aber um dich war diese Wand aus Glas, während Mona ganz da war, wo immer sie auftauchte, nach Belieben jeden und jede zu sich heranholen konnte und sozusagen aufwecken oder in den Schlaf ihres Tanzens, Redens, Lachens, ihres Duftes ziehen, mit wem auch immer sie gerade wollte im Bett landen, aber was heißt das schon, es geht um die Spannung der Haut, die Wölbung der Pupillen, jemand berührt einen anderen und der andere ist gar nicht da, weniger als Luft, auf der anderen Seite des Schlafes oder der anderen Seite eines Bildschirms, flammt auf und verlöscht, jemand kann dich verschlingen und zugleich abweisen, man kann sich zeigen, nackt und vollkommen, nur um sich vergessen zu machen, du vergisst nichts, du machst vergessen, du fühlst dich verloren, nackt und vollkommen).
    Sie verlässt die Wohnung ohne Geld in der Tasche und ohne Ziel, überlässt sich der Bewegung, sie kann die ganze Stadt besetzen, die ganze Stadt ist ihr Gelände; die Straßen sind verwandelt, nur weil sie hier geht, hier aus der U-Bahn steigt, hier aus einer Straßenbahn kommt. Durch die Straßen gleiten, als wären sie aus Wasser oder Luft. Dabei weiß sie, es ist nur eine Nachahmung, sie ist nur eine Verdopplung, geht an Monas Stelle, lebt an Monas Stelle. Sie betritt kein Lokal, der Regen durchtränkt ihre Kleider, ihre Füße in den Turnschuhen stinken, an manchen Abenden läuft sie gegen die tiefstehende Sonne, und sie fühlt sich, als wäre sie blind: Schatten kommen ihr entgegen, irgendwann mitten in der Nacht oder am nächsten Morgen findet sie nach Hause, hungrig, erschöpft, du bist ein Zeichen, sagt sie sich, ein ausgelöschtes Zeichen. Sie lernt so zu gehen, als hätte eine fremde Gewalt ihren Körper übernommen; aber nicht ganz; sie selbst ist ein minimales Bewusstsein, das dieser Gewalt nachspürt. Den Kräften nachspürt, die sich in ihr begegnen und, mit wachsender Genauigkeit ihres Blicks, sich zerteilen, neu gruppieren und vermehren. Sie weiß nicht, ob sie auffällt, wie sehr sie auffällt, sie wird nie angesprochen oder von Polizisten, wie es so heißt, aufgegriffen. In ihrer Tasche verschimmelt der alte Studentenausweis.
    Zwei oder drei Mal besucht sie noch den Mann in dem Haus am
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