Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Stadtrand, einige Male geht sie in Kellerbühnen oder später ins Museumsquartier zu Tanztheatervorstellungen, der Mann gibt ihr eine Adresse, sie kommt mit Leuten ins Reden, in ihrem Kopf hat sie klare Vorstellungen. Sie hat in ihrem früheren Leben gelernt, intelligent klingende Sätze von sich zu geben; sie weiß, dass diese Sätze nur verdecken, was sie meint. Sie weiß, wie verrückt sie erscheinen darf; sie weiß, wie solche Leute reden und wie sie mit solchen Leuten reden muss. In ihrem Körper wohnt die Geschichte und scheint in manchen ihrer Sätze aufzublitzen, anfangs sogar für sie selbst (in einem der Zimmer ihrer Wohnung ist ein Spiegel, und sie kann sich mit ihrem mageren Tänzerinnenkörper vor diesen Spiegel stellen und solch einen Satz aufsagen, während ein Schatten durchs Zimmer kriecht und ihr Bild halb und dann ganz verschluckt). In ihrem Körper wohnt die Geschichte: Du konzentrierst dich auf einen Punkt an deinem Rücken, in der kleinen Kuhle über deiner Hüfte: dort pulsiert das Blut, dort dehnt sich, ganz langsam, eine kleine Kugel aus, mit fein gespannter Oberfläche, zitternd wie ein geschältes Ei. Du spürst nichts als dieses Pulsieren, du fühlst die kleine Kugel in deiner Hand, ein Lebewesen, das dein Wissen und mehr als dein Wissen enthält.
Dann gehst du aus dem Haus und unter die Leute.
Ihr Name ist diesem und jenem bekannt, niemand hat sie je tanzen gesehen, aber allen Eingeweihten scheint klar, dass sie eine Tänzerin ist, dass sie, auch wenn man sich nicht erinnern kann, wann und wo, schon aufgetreten ist, vielleicht hat man, ohne es zu wissen, selbst einen ihrer versteckten, aber beinah legendären Auftritte gesehen und war, obgleich man es sofort vergessen hatte und vielleicht vergessen musste, tief beeindruckt davon gewesen. Einmal bekommt sie ein Stipendium; ein gutes Jahr lang kann sie sogar davon leben. Das Haus, in dem sie seit mehr als fünfzehn Jahren wohnt, in ihren beiden Betten in ihren beiden Zimmern schläft und aus ihren beiden Kleiderschränken Kleider holt, in einer geräumigen alten Wohnung, die von einer Oma stammt und deren Miete bis vor kurzem wie nebenbei von ihrer Mutter gezahlt wurde, wird irgendwann einmal (wie man Monate später zu hören bekommt) verkauft und beginnt sich langsam, über zwei oder drei Jahre hinweg, zu verändern, die Postkästen werden aufgebrochen, Leute scheißen in den Hauseingang, in die Keller läuft Wasser, die Kastanie im Hof wird über Nacht gefällt (ungläubig schaust du, vom Lärm geweckt, aus dem Fenster), es gibt Kurzschlüsse und Brände in den Kellerabteilen, die Telefonleitungen werden durchschnitten, nichts davon scheint strafbar. Pläne für Renovierungen und Dachausbauten werden präsentiert und nie realisiert; die Miete erhöht, wieder gesenkt, neuerlich erhöht; Angebote werden gemacht, mit drohendem Unterton, aber das verstehst du sicherlich falsch. Das Haus wird am Ende abgerissen, sie wehrt sich nicht, über die zwei oder drei Jahre hinweg, mit solchen Leuten verhandelt sie nicht, macht keinen Anruf, schreibt keinen zornigen Brief, schaut dem Hass zu, der in ihr wächst (sie hat nicht aufgegeben), zieht in die kleine Wohnung, die ihr angeboten wird, und lässt alles zurück, die Kleiderschränke, die Kleider, bis auf ein paar, die Bücher, bis auf ein paar, fast achtlos ausgewählte, die Bücherschränke, soll sich darum kümmern, wer will.
Er muss nun wieder eine Woche warten, vor dem Computer, der den ganzen Tag eingeschaltet auf diesem oder jenem Tisch in der Wohnung herumsteht, keine neuen Nachrichten, liest er alle Viertelstunden, alle fünf Minuten, jede Minute, wenn er sich nicht losreißen kann von dem leise surrenden leuchtenden Ding, das ständig, ohne dass er eine Ahnung hätte, auf welche Weise, Informationen aus der Außenwelt aufsaugt und Informationen aus seiner Innenwelt (der Innenwelt dieses Dings und damit auch der Innenwelt seines Besitzers) in die Außenwelt weiterleitet, an wen denn, an niemand bestimmten, hofft und fürchtet er. Der Zigarettengeruch und jeder Geruch außer seinem eigenen ist aus der Wohnung verschwunden, die in Zonen eingeteilt ist, selbst in den Räumen, die er wirklich bewohnt: es gibt dort Möbelstücke, die unbenutzt sind, Anblicke, aus denen die Figuren gelöscht sind (der Blick von der Couch im Wohnzimmer aus auf den Schreibtisch vor dem Balkon und die Pflanzen und dahinter die Mauer), Zurückgelassenes, Lebendiges, das tot ist, Totes, das ein beunruhigendes Leben
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