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Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)

Titel: Regeln des Tanzes: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Stangl
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zeigen könnte. Mit all dem, der Hälfte oder in Wahrheit viel mehr als der Hälfte dieser Wohnung, muss er umgehen können. Dort entstehen bald Leerräume, die Möbel selbst werden unsichtbar, man muss nur den richtigen Blick finden, dann sieht man nicht, was fehlt.
    Manchmal horcht er nach einem Lachen, nach unverständlichen in ein Telefon hineingesprochenen Sätzen, die aus dem Zimmer mit dem dellenlosen Sofa, dem Akten-, Bücher-, Skripteregal, dem Bild Studie XII/4 dringen könnten, er würde für möglich halten (jedenfalls würde seine Angst oder seine Erwartung es für möglich halten), dass eine völlig unbekannte Person aus dem Zimmer träte.
    Wenn er gähnt, merkt er, wie ein Tier in seinem Inneren sich streckt. Seine Lider zucken ab und zu wie die Flügel eines Insekts. Er möchte brüllen, heulen (herzzerreißend, aber wegen nichts und für keinen), nackt durch die Wohnung kriechen, vielleicht mit aus dem Maul tropfendem Speichel, und sich brüllen und heulen hören, er sieht sich wie ein Kameraauge bei dieser Vorstellung zu, nachts vor dem Einschlafen, morgens nach dem Aufwachen oder in ausgesuchten Momenten tagsüber, wenn sich sein Missmut und seine Ungeduld plötzlich legen oder verwandeln. Er fühlt sich wie ein Teenager, während er auf eine Antwort auf sein Altherrenmail wartet, er ist überzeugt, alles falsch gemacht zu haben, unfähig zu jeder Strategie zu sein, alles verlernt zu haben, was er als erwachsener Mensch gekonnt zu haben glaubte, nämlich die, wie man so sagt, einfachsten Grundregeln sozialen Verhaltens; manchmal starrt er den Computer an, als hätte diese Maschine, an die er sich (mühsam genug mit beinah vierzig, ein wissenschaftlicher Mitarbeiter mit mittelmäßiger Karriere) schon vor langer Zeit gewöhnt zu haben glaubte, ihm, ohne das er es merkte, über die blitzschnellen Leitungen, die sie mit aller Welt verbanden, alles weggenommen (aber was fehlt ihm denn) und in alle Welt verstreut; als hätte sie ihm die Sprache genommen, die Zeit, seine Art zu schauen; ihm das Mark ausgesaugt; aber dann gähnt er, dann zucken seine Lider, dann möchten die Muskeln durch Risse in seiner Haut dringen. In jeder seiner Zellen herrscht eine wunderbare Leere.
    Als sie zum ersten Mal wirklich auf einer Bühne steht, nackt, auf ihre zitternden Hände schaut und gleich als Ganze zu zittern beginnt, nah daran, sich zu übergeben, die zehn oder zwanzig Leute unten im Schatten zählen kaum (oder doch: was wäre sonst der Unterschied zu den Proben, ist das Zittern jetzt echter?), spürt sie es einen ausgedehnten Moment lang, vielleicht über die ganze halbe Stunde ihrer sogenannten Choreographie; als wäre sie ein einziger nicht in Minuten, Sekunden oder Jahrhunderte zu teilender Moment. Sie schämt sich, wie sie sich zuletzt als Kind für ihren Körper schämen hat können, jeder Körperteil stellt sich, ohne ihr Wissen und ihre Kontrolle, einzeln zur Schau; sie spürt wieder das Nichtzusammengehören ihrer Körperteile, das Ungelenke, im Ungelenken und Nichtzusammengehören ihrer Körperteile das Ungelenke ihrer Schwester, das sich in Grazie verwandeln konnte, die Figur Mona, eine Figur, die sie nicht ist, sie ist keine Figur, nur ein Körper oder auch die Hälfte eines Körpers, ein Geisterkörper. Und gleichzeitig beginnt jedes einzelne ihrer Glieder, jeder Muskel zu sprechen, von einer seltsamen Lust erfüllt. Sie zittert; sie atmet; saugt den Atem ganz tief ein und sammelt ihn an einem Punkt ihres Körpers, den sie mit ihrem Atem entdeckt und zugleich erfindet. Ein Netz von Punkten entsteht, eine Karte ihres Inneren, ein anderer Körper unterhalb des sichtbaren. Dieser andere Körper ist sichtbarer als der sichtbare. Du kannst dich selbst völlig vergessen, in ein anderes Leben stürzen, in die Tiefe der Scham. Die Kinnlade herunterklappen, zu röcheln, zu stöhnen, zu schreien beginnen, du kannst nicht schreien und du schreist, hörst dich schreien. Du machst Kaubewegungen mit dem Mund, ausladende und ungehörige, sozusagen asoziale Kaubewegungen, dein Gesicht gehört dir nicht mehr, dein Gesicht ist kein Gesicht. Sie geht, ganz langsam, mit verkrampftem, zurückgelegtem Oberkörper, in die Knie. Ein Scheinwerfer, alles Licht ist auf sie gerichtet. Dieser schäbige Keller hier ist die Welt, die sogenannte Bühne in dem sogenannten Theaterraum, der Punkt, auf den sich die Scheinwerfer richten, er steht der Wirklichkeit entgegen, der Körper auf dieser Bühne, die Scham, die Schwere und
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